Vom Schmökern und vom Wissen
Beim Aufräumen fiel mir eine Illustrierte in die Hand, in der über das Ende der gedruckten Brockhaus-Enzyklopädie berichtet wird. Die aktuelle 21. Auflage werde wohl der letzte gedruckte Brockhaus überhaupt sein. Der Verlag setzt nun ganz aufs Internet. Der gute alte Brockhaus, der stolze Wissensschatz unserer Eltern und Großeltern, eineinhalb Meter repräsentative enzyklopädische Bildung, 30 schwere Bände Ausdruck bürgerlichen Bildungsbewusstseins und abendländische Traditionspflege, über Generationen eine einmalige (teure) Anschaffung fürs Leben.
Lexika gehörten über Generationen zur Grundausstattung jedes bürgerlichen Haushalts. Und wenn man sich keinen Brockhaus leisten konnte, dann gab es noch Meyers Enzyklopädisches Lexikon oder eines der zahlreichen Volkslexika. Denn selbst mit diesen konnte man lange Nachmittage, Abende oder Nächte verbringen und das machen, was ich bis heute mit Lexika verbinde und am liebsten mache: schmökern! Die Welt ein Sammelsurium irgendwo zwischen Talent, Talgdrüsen und Taliban, Talkshow, Talsperre und Talleyrand, Tamariske, Tambourin und Tangerine Dream; Querverweise von Band 7 zu Band 19 und von dort über Band 4 zu Band 1 und 12 und so immer weiter, stundenlang, bis alle Bände aufgeschlagen auf dem Fußboden liegen; im Universum blätternd, dem japanischen Meister buddhistischer Holzskulptur, Unkei, aus dem 12 Jahrhundert begegnen und, weil‘s gerade auf der selben Seite steht, noch den Artikel über Unkrautbekämpfungsmittel lesen. Draußen prasselt der Regen gegen die Fenster, es ist dunkel geworden. Die hypnotische Neugier hält mich gefangen zwischen zwei Buchdeckeln. Ich blättere und lese und folge dem ziellosen Pfad von Verweisen.
Die Welt ein Buch
Die Logik der Enzyklopädisten, das Wissen der Welt alphabetisch zu ordnen, ist nützlich und absurd zugleich. Nützlich, weil man schnell findet, was man sucht; absurd, weil nach Mieder gleich Mielke und nach der Tarifzone Tarik Ibn Sijad folgt. Die Vorstellung, dass die Welt sich ordnen lässt, dass ein logisches System das Wissen der Menschheit bündeln und verfügbar macht, dass man dem Universalitätsanspruch in Form eines Universallexikons, einer Enzyklopädie gerecht werden kann, diese Vorstellung wurde erst im 20. Jahrhundert erschüttert.
Einer der Gründe liegt in der Dynamisierung des Wissens; wachsende Spezialisierung und wachsendes Wissen selbst innerhalb immer kürzerer Zeitabstände, stellen die Dauerhaftigkeit von vermeintlich unerschütterlichem Wissen in Frage. Der Geschwindigkeit mit der neues Wissen erworben und bisher gültiges Wissen obsolet wird, kann eine Enzyklopädie wie der Brockhaus nicht Rechnung tragen; Recherche, Redaktion und Druck allein nehmen so viel Zeit in Anspruch, dass zum Zeitpunkt der Veröffentlichung Teile des Lexikons bereits veraltet sind. Wer aktuell informiert sein will, greift daher in die Tasten und befragt das Internet; genauer gesagt, er befragt Wikipedia. Der aktuelle gedruckte Brockhaus zählt rund 300.000 Stichworte. Das deutsche Wikipedia knapp 800.000, die freie, mehrsprachige Wikipedia-Enzyklopädie ist mit 10.000.000 Stichwörtern der Riese unter den Lexika.
Vorboten der Revolution
Doch das alleine sagt wenig. Aussagekräftiger und vor allem entscheidender für die Entscheidung dem Internet den Vorzug vor der gedruckten Ausgabe des Brockhaus zu geben, ist die Tatsache, dass sich eine internetbasierte Enzyklopädie editieren und verlinken lässt. Jede neue Entwicklung und jede aktuelle Veränderung geht direkt in den Artikel ein. Und die Verlinkung der Artikel bietet nicht nur ergänzende Informationen, sondern verführt zu dem, was im Buchzeitalter „schmökern“ hieß, es lädt zum „surfen“ ein. Der Traum vom universellen Wissen, wie ihn die Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts träumten, hat bis heute nichts von seiner visionären Kraft verloren. Die Vorrede zu den 1751 erschienenen ersten Veröffentlichung der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert liest sich erstaunlich aktuell und zeitgemäß, und das Internet scheint die Fortsetzung ihres großen verlegerischen Projekts zu sein: „Bei der lexikalischen Zusammenfassung alles dessen, was in die Bereiche der Wissenschaften, der Kunst und des Handwerks gehört, muss es darum gehen, deren gegenseitige Verflechtungen sichtbar zu machen und mithilfe dieser Querverbindungen die ihnen zugrunde liegenden Prinzipien genauer zu erfassen [...] es geht darum, die entfernteren und näheren Beziehungen der Dinge aufzuzeigen, [...] ein allgemeines Bild der Anstrengungen des menschlichen Geistes auf allen Gebieten und in allen Jahrhunderten zu entwerfen.“ Dieses Verständnis von der Darstellung und Präsentation menschlichen Wissens war ein aufklärerisches. Es war den Herrschern der Zeit ein Dorn im Auge und die Autoren hatten gegen Druckverbote und Zensur zu kämpfen.
Die Encycopédie war ein wichtiger Vorbereiter der Französischen Revolution. Sie war Ausdruck eines sich verändernden Denkens, Ausdruck des Primats der Vernunft und Bekenntnis zu kritischem Denken. „Dieses Werk wird sicher mit der Zeit eine Umwandlung der Geister mit sich bringen, und ich hoffe, dass die Tyrannen, die Unterdrücker, die Fanatiker und die Intoleranten dabei nicht gewinnen werden. Wir werden der Menschheit gedient haben.“ schreibt Diderot. Heute, wo sich die Enzyklopädien vom gedruckten Buch verabschieden, wo das Wissen der Welt in seinen Verflechtungen und Querverbindungen in den Enzyklopädien im Internet zu finden ist, findet auch eine Umwandlung der Geister statt. Die Kritik gegenüber der vermeintlichen Flüchtigkeit und Unbeständigkeit des Internets ist hartnäckig. Nicht selten ist sie auch getragen von einer allgemeinen Technikfeindlichkeit und der Skepsis gegenüber neuen Entwicklungen, deren Folgen und Wirkungen nicht absehbar sind.
Wer ändert sich?
Nichts ersetzt den sinnlichen Genuss, den das Lesen eines Buches, den das Blättern in einem Lexikon verschafft. Sich in ein Buch zu versenken, die Welt um sich herum zu vergessen, einzutauchen in Geschichten und Biografien, gehört zum menschlichen Selbstverständnis. Nichts aber ersetzt auch den Nutzen des Internets als Medium, das der Veränderung, der Dynamik und der Halbwertszeit unseres Wissens wie kein anderes Rechnung trägt.
Der französische Historiker Roger Chartier schrieb den klugen Satz „Ein Buch ändert sich, indem wir uns ändern.“ Mit anderen Worten: unsere Lebens- und Erfahrungswelt bestimmt unseren Blick auf ein scheinbar so unveränderliches Ding wie ein Buch. Ein Buch, das wir nach mehreren Jahren ein zweites Mal lesen, ist in unserer Wahrnehmung nicht identisch mit demselben Buch, als wir es zum ersten Mal lasen. Veränderungen verunsichern und bereichern. Sie irritieren und sie treiben an.
Eine Enzyklopädie des menschlichen Wissens ist ein dauernder Prozess. Sie ist kein auf ewige Zeiten zwischen zwei Buchdeckeln eingeschlossenes Vermächtnis für die Nachwelt. Das hat auch der Brockhaus-Verlag in Form massiver Absatzschwierigkeiten zu spüren bekommen. Die Konsequenz, das Projekt Brockhaus Enzyklopädie in 30 gedruckten Bänden mit der 21. Auflage zu beenden und fortan nur noch im Internet präsent zu sein, ist das Ende einer Epoche und das Anerkenntnis einer sich ändernden Medienwelt. Es ist ein Schritt in die Zukunft, der Signalwirkung hat.
Literaturtipp: Die Welt der Encyclopédie. Ediert von Anette Selg und Rainer Wieland, Frankfurt a.M. 2001
Diese und alle bisher erschienenen Kolumnen finden Sie unter http://www.freiehonnefer.de/category/weltweit/lesezeichen
Lexika gehörten über Generationen zur Grundausstattung jedes bürgerlichen Haushalts. Und wenn man sich keinen Brockhaus leisten konnte, dann gab es noch Meyers Enzyklopädisches Lexikon oder eines der zahlreichen Volkslexika. Denn selbst mit diesen konnte man lange Nachmittage, Abende oder Nächte verbringen und das machen, was ich bis heute mit Lexika verbinde und am liebsten mache: schmökern! Die Welt ein Sammelsurium irgendwo zwischen Talent, Talgdrüsen und Taliban, Talkshow, Talsperre und Talleyrand, Tamariske, Tambourin und Tangerine Dream; Querverweise von Band 7 zu Band 19 und von dort über Band 4 zu Band 1 und 12 und so immer weiter, stundenlang, bis alle Bände aufgeschlagen auf dem Fußboden liegen; im Universum blätternd, dem japanischen Meister buddhistischer Holzskulptur, Unkei, aus dem 12 Jahrhundert begegnen und, weil‘s gerade auf der selben Seite steht, noch den Artikel über Unkrautbekämpfungsmittel lesen. Draußen prasselt der Regen gegen die Fenster, es ist dunkel geworden. Die hypnotische Neugier hält mich gefangen zwischen zwei Buchdeckeln. Ich blättere und lese und folge dem ziellosen Pfad von Verweisen.
Die Welt ein Buch
Die Logik der Enzyklopädisten, das Wissen der Welt alphabetisch zu ordnen, ist nützlich und absurd zugleich. Nützlich, weil man schnell findet, was man sucht; absurd, weil nach Mieder gleich Mielke und nach der Tarifzone Tarik Ibn Sijad folgt. Die Vorstellung, dass die Welt sich ordnen lässt, dass ein logisches System das Wissen der Menschheit bündeln und verfügbar macht, dass man dem Universalitätsanspruch in Form eines Universallexikons, einer Enzyklopädie gerecht werden kann, diese Vorstellung wurde erst im 20. Jahrhundert erschüttert.
Einer der Gründe liegt in der Dynamisierung des Wissens; wachsende Spezialisierung und wachsendes Wissen selbst innerhalb immer kürzerer Zeitabstände, stellen die Dauerhaftigkeit von vermeintlich unerschütterlichem Wissen in Frage. Der Geschwindigkeit mit der neues Wissen erworben und bisher gültiges Wissen obsolet wird, kann eine Enzyklopädie wie der Brockhaus nicht Rechnung tragen; Recherche, Redaktion und Druck allein nehmen so viel Zeit in Anspruch, dass zum Zeitpunkt der Veröffentlichung Teile des Lexikons bereits veraltet sind. Wer aktuell informiert sein will, greift daher in die Tasten und befragt das Internet; genauer gesagt, er befragt Wikipedia. Der aktuelle gedruckte Brockhaus zählt rund 300.000 Stichworte. Das deutsche Wikipedia knapp 800.000, die freie, mehrsprachige Wikipedia-Enzyklopädie ist mit 10.000.000 Stichwörtern der Riese unter den Lexika.
Vorboten der Revolution
Doch das alleine sagt wenig. Aussagekräftiger und vor allem entscheidender für die Entscheidung dem Internet den Vorzug vor der gedruckten Ausgabe des Brockhaus zu geben, ist die Tatsache, dass sich eine internetbasierte Enzyklopädie editieren und verlinken lässt. Jede neue Entwicklung und jede aktuelle Veränderung geht direkt in den Artikel ein. Und die Verlinkung der Artikel bietet nicht nur ergänzende Informationen, sondern verführt zu dem, was im Buchzeitalter „schmökern“ hieß, es lädt zum „surfen“ ein. Der Traum vom universellen Wissen, wie ihn die Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts träumten, hat bis heute nichts von seiner visionären Kraft verloren. Die Vorrede zu den 1751 erschienenen ersten Veröffentlichung der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert liest sich erstaunlich aktuell und zeitgemäß, und das Internet scheint die Fortsetzung ihres großen verlegerischen Projekts zu sein: „Bei der lexikalischen Zusammenfassung alles dessen, was in die Bereiche der Wissenschaften, der Kunst und des Handwerks gehört, muss es darum gehen, deren gegenseitige Verflechtungen sichtbar zu machen und mithilfe dieser Querverbindungen die ihnen zugrunde liegenden Prinzipien genauer zu erfassen [...] es geht darum, die entfernteren und näheren Beziehungen der Dinge aufzuzeigen, [...] ein allgemeines Bild der Anstrengungen des menschlichen Geistes auf allen Gebieten und in allen Jahrhunderten zu entwerfen.“ Dieses Verständnis von der Darstellung und Präsentation menschlichen Wissens war ein aufklärerisches. Es war den Herrschern der Zeit ein Dorn im Auge und die Autoren hatten gegen Druckverbote und Zensur zu kämpfen.
Die Encycopédie war ein wichtiger Vorbereiter der Französischen Revolution. Sie war Ausdruck eines sich verändernden Denkens, Ausdruck des Primats der Vernunft und Bekenntnis zu kritischem Denken. „Dieses Werk wird sicher mit der Zeit eine Umwandlung der Geister mit sich bringen, und ich hoffe, dass die Tyrannen, die Unterdrücker, die Fanatiker und die Intoleranten dabei nicht gewinnen werden. Wir werden der Menschheit gedient haben.“ schreibt Diderot. Heute, wo sich die Enzyklopädien vom gedruckten Buch verabschieden, wo das Wissen der Welt in seinen Verflechtungen und Querverbindungen in den Enzyklopädien im Internet zu finden ist, findet auch eine Umwandlung der Geister statt. Die Kritik gegenüber der vermeintlichen Flüchtigkeit und Unbeständigkeit des Internets ist hartnäckig. Nicht selten ist sie auch getragen von einer allgemeinen Technikfeindlichkeit und der Skepsis gegenüber neuen Entwicklungen, deren Folgen und Wirkungen nicht absehbar sind.
Wer ändert sich?
Nichts ersetzt den sinnlichen Genuss, den das Lesen eines Buches, den das Blättern in einem Lexikon verschafft. Sich in ein Buch zu versenken, die Welt um sich herum zu vergessen, einzutauchen in Geschichten und Biografien, gehört zum menschlichen Selbstverständnis. Nichts aber ersetzt auch den Nutzen des Internets als Medium, das der Veränderung, der Dynamik und der Halbwertszeit unseres Wissens wie kein anderes Rechnung trägt.
Der französische Historiker Roger Chartier schrieb den klugen Satz „Ein Buch ändert sich, indem wir uns ändern.“ Mit anderen Worten: unsere Lebens- und Erfahrungswelt bestimmt unseren Blick auf ein scheinbar so unveränderliches Ding wie ein Buch. Ein Buch, das wir nach mehreren Jahren ein zweites Mal lesen, ist in unserer Wahrnehmung nicht identisch mit demselben Buch, als wir es zum ersten Mal lasen. Veränderungen verunsichern und bereichern. Sie irritieren und sie treiben an.
Eine Enzyklopädie des menschlichen Wissens ist ein dauernder Prozess. Sie ist kein auf ewige Zeiten zwischen zwei Buchdeckeln eingeschlossenes Vermächtnis für die Nachwelt. Das hat auch der Brockhaus-Verlag in Form massiver Absatzschwierigkeiten zu spüren bekommen. Die Konsequenz, das Projekt Brockhaus Enzyklopädie in 30 gedruckten Bänden mit der 21. Auflage zu beenden und fortan nur noch im Internet präsent zu sein, ist das Ende einer Epoche und das Anerkenntnis einer sich ändernden Medienwelt. Es ist ein Schritt in die Zukunft, der Signalwirkung hat.
Literaturtipp: Die Welt der Encyclopédie. Ediert von Anette Selg und Rainer Wieland, Frankfurt a.M. 2001
Diese und alle bisher erschienenen Kolumnen finden Sie unter http://www.freiehonnefer.de/category/weltweit/lesezeichen
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