1968 – Inflation der Geschichte
Auch 40 Jahre danach hat 1968 nichts von seinem Mythos verloren. Ich selber bin zwar weder für Ho-Chi-Minh noch gegen die Notstandsgesetze auf die Straße gegangen. Dafür war ich damals zu jung. 1968 steht darum für mich auch weniger als festes Datum der Zeitgeschichte, sondern vielmehr als Symbol oder auch nur als Etikett einer Entwicklung, die bereits Jahre zuvor begonnen hatte und weit in die 70er Jahre hineinreichen sollte. „1968“ das ist für mich die Inflation der Geschichte, eine wilde Achterbahnfahrt, kaum überschaubar, plakatiert als „Revolte“, als “Kampf“ als „Revolution gar. Die bewegenden Ereignisse und Veränderungen, die „die 68er“ brachten, habe ich als Kind erlebt. Wenn ich zurückschaue, finde ich vor allem die Erinnerung an die Atmosphäre dieser Zeit wieder. Eine Atmosphäre von Umbruch, Aufbruch und Widerstand. Gleichzeitig ist es auch die Erinnerung an eine Zeit großer Idole aber auch ebenso großer Ernüchterung. Ein subjektiver, ein persönlicher Blick zurück, auf eine Zeit, die wohl an niemandem spurlos vorbeigegangen ist.
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Neunzehnhundertachtundsechzig!
I. Flimmern und Rauschen
Ich war sechs Jahre alt, als am 4. April 1968 die tödlichen Schüsse auf Martin Luther King in Memphis fielen. Ich sah die Bilder im Fernsehen. Genauso, wie ich die Bilder vom Kampf der Amerikaner gegen die Vietcong in Saigon sah, die Bilder des französischen Generalstreiks und die Besetzung der Sorbonne in Paris, die Bilder von der Wahl Richard Nixons zum 37. Präsidenten der Vereinigten Staaten. Ich sah die Bilder ohne sie zu verstehen. Stattdessen verarbeitete ich meine Eindrücke, wie wohl die meisten meiner Generation, in Kriegs- und Gangsterspielen. Auch wir töteten uns gegenseitig täglich mehrmals und brachial in dem kleinen Wäldchen hinter unserem Haus bis wir zum Abendessen gerufen wurden.
Dann sah ich die faszinierenden Bilder der ersten bemannten Mondumkreisung durch Apollo 8, Aufnahmen vom Kontrollzentrum in Cape Canaveral, und ich baute mir aus alten Waschpulverkartons eine eigene Rakete, robust genug, mich sechs Wochen lang in ferne Umlaufbahnen zu träumen. Im Fernsehen sah ich auch die Bilder von den Olympischen Spielen in Mexiko und Bob Beamons Weltrekord im Weitsprung: achtmeterneunzig! Allabendlich flimmerte während des Essens bei Milch und Schnittchen der Fernseher und nichts zog mich magischer an, als diese Bilder. Abend für Abend. Das war 1968. In schwarz-weiß. Wäre ich zehn oder auch nur fünf Jahre älter gewesen, ich hätte eine Vorstellung davon entwickeln können, was da um mich herum passierte, hätte es zumindest vage einordnen können. Vielleicht aber auch nicht.
Heute weiß ich, dass selbst viele Erwachsene damals mit den Ereignissen überfordert waren, sie nicht einordnen konnten, nicht begriffen, was das, was da draußen passierte, bedeutete. Und was in ihre halbwüchsigen Kinder gefahren war, die mit immer längeren Haaren am Tisch saßen, „Hippie-Musik“ hörten und Ho-Chi-Minh-Parolen rufend auf die Straße gingen und demonstrierten, das begriffen sie noch weniger.
Meine Erinnerungen an das Jahr 1968 sind untrennbar mit dem Fernsehen verbunden. Und eigentlich beginnen sie bereits ein Jahr zuvor. Das Staatsbegräbnis Konrad Adenauers wurde im Fernsehen übertragen. Unser Gerät war in einem Kommodenähnlichen Schränkchen hinter einer abschließbaren Falttüre verborgen und gesichert. An diesem besonderen Tag wurde es bereits am Vormittag geöffnet. Die Eurovisionsmelodie erklang. Und weil ich sie an diesem Tag das erste Mal bewusst hörte, blieb sie für mich immer verbunden mit dem Gefühl von Festlichkeit, Trauer, Abschied und Tod. Ich glaube, schon damals habe ich bei den Fanfarenklängen weinen müssen. Ich hockte da und verfolgte fasziniert die stille und zugleich pompöse Prozession der Trauergäste. Die Überführung des Sarges von Köln nach Rhöndorf begleitet von einer NATO-Flottille machte einen tiefen Eindruck auf mich. Dass wir uns mitten im kalten Krieg befanden, dass wusste ich damals natürlich noch nicht.
Im gleichen Jahr, also 1967, fand auch der Besuch des Persischen Königs Reza Pahlewi und seiner Frau Soraya in Berlin statt. Ein Ereignis von nationalem Interesse. Und ein Fest für die Boulevardzeitungen und Hochglanzmagazine. Ein Fest, das man sich auch nicht durch die Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg verderben ließ, während die Staatsgäste in der Deutschen Oper die „Zauberflöte“ hörten. Eigentlich begann 1968 schon damals.
Während ich im Fernsehen die ersten Folgen von „Lassie“ sah und Roy Black von den Lesern der „Bravo“ zum beliebtesten Sänger des Jahres gewählt wurde, herrschten in einigen Ländern Europas, wie Spanien, Portugal und Griechenland, noch Diktatoren. Ich kann mich noch gut erinnern, dass wir auf die Postkarten, die wir vom Urlaub in Spanien aus nach Deutschland schickten, Briefmarken mit dem Porträt von General Franco, „el Caudillo“, klebten.
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II. Die Rillen der Revolution
Ich bin mit Vinyl aufgewachsen. Schallplatten hatten bereits früh Kultstatus. Schallplatten waren nicht einfach nur funktionale Tonträger, Schallplatten mussten – und ich sage das nicht ohne eine leichte Wehmut über den Verlust des Unwiederbringlichen – mit Sorgfalt und Vorsicht behandelt werden. Ihre Oberfläche wurde mit Anti-Statik-Tüchern von Staub befreit und manche Puristen spielten ihre kostbaren Scheiben nur nass ab. Schallplatten hatten eine erste Seite und eine Rückseite, die bei den Singles Flipside hieß. Es glich oft einem Ritual, die Saphirnadel auf die äußere Rille oder auf den breiteren Zwischenraum zwischen zwei Stücken zu setzen, ohne zu zittern und also die Scheibe nicht durch Kratzer zu beschädigen. Mein erster Plattenspieler war der Mister Hit von Telefunken, ein kompaktes Gerät, in dessen durchsichtigem, abnehmbarem Kunststoffdeckel der Lautsprecher integriert war. Aber das war erst Mitte der 70er.
Meine erste bewusste Begegnung mit der Musik der Zeit, die gleichzeitig, wenn man so will, meine musikalische Erweckung war – zumindest markiert sie den Beginn meiner wachsenden musikalischen Neugierde - war der Nummer-Eins-Hit des Jahres 69, „Ob-La-Di, Ob-La-Da“. Nicht eben eine Hymne der Revolution und heute, nach rund 40 Jahren, eher in die Kategorie „alberne Unbekümmertheit“ abzulegen. (Als Howard Carpendale den Song 1996 coverte, war mir das ein unabweisbarer Beleg dafür, dass ich damals ganz eindeutig unter Geschmacksverirrungen gelitten hatte.) Ich trällerte den Song wochenlang auf dem Schulweg und auch auf dem Nachhauseweg, albern und unbekümmert. Die Flipside der Single kannte ich damals noch nicht. Dabei war „While my Guitar gently weeps“, mit dem fulminanten Gitarrensolo von Eric Clapton, vielmehr und viel stärker Ausdruck der 68er. Später erst, etwa Mitte der 70er, als ich das Weiße Album für mich entdeckte, das nummerierte Doppelalbum mit Poster und vier Hochglanzporträts, die sofort an die Wand gepinnt wurden, „Revolution“ und „Back in the U.S.S.R.“ hörte und vor allem den wohl besten Song „Happyness is a warm gun“, wuchs mein Respekt (oder war es nur eine pubertäre Faszination?) vor einer Bewegung, einer Zeit, einem Lebensgefühl, deren Anfänge da bereits fast 10 Jahre zurücklagen.
Im selben Jahr, als halb Deutschland also albern und unbekümmert „Ob-La-Di, Ob-La-Da“ trällerte, fand im US Bundesstaat New York, auf einer Viehweide bei Bethel, das wohl bedeutendste Musikfestival der Zeit statt, das zugleich der Höhepunkt der amerikanischen Hippiebewegung war. Geschätzte 400.000 Teilnehmer erlebten Woodstock als ein Musik- und Drogen-Happening. Hier spielten natürlich weder die Beatles noch die von ihren Fans zum proletarischen Gegenblock erklärten Rolling Stones. Woodstock, das war die amerikanische Hippiekultur, der Jimmy Hendrix mit seiner Version der amerikanischen Nationalhymne, dem „Star Spangled Banner“, am Ende des Festivals einen zugleich wehmütigen und anklagenden musikalischen Gegenentwurf zum offiziellen Amerika lieferte, einem Amerika, das seine Söhne in den Vietnamkrieg schickte.
Die „Musik aus Studio B“, die Chris Howland wöchentlich präsentierte, war harmlos, brav und passte fabelhaft in die neue bunte Warenwelt der 60er Jahre. Vermutlich erinnert sich auch deshalb niemand mehr an sie. Anders war es mit dem „Beat Club“. Schon allein deshalb, weil er von Uschi Nerke moderiert wurde und Gogo-Girls in kurzen Röckchen vor der Bühne herum zappelten und weil dort „richtige“ Musik gespielt wurde, live. Aber ich glaube, ich habe das nur am Rande mitbekommen. Wenn überhaupt.
„Stell den Krach ab!“ war der regelmäßige Kommentar vieler Eltern, die zwar „I want to hold your hand“ in einer Hazy-Osterwald-Bigband-Version auf ihren Feten mit Salzbrezeln und aufgespießten Käsewürfeln hörten, Jimmy Hendrix aber für „Negermusik“ hielten und dem wachsenden Drogenkonsum ihrer Kinder mit Entsetzen, Hilflosigkeit und dem Repertoire derer reagierten, für die Härte und Autorität die Mittel zum Erfolg waren, auch im Privaten.
Es war ein Soundteppich, der über der Zeit lag, besser gesagt, der durch sie hindurch geknüpft wurde und ihr dadurch – rückblickend – eine Form, eine Gestalt gab. Dazu gehörten die zahlreichen Clubs, Jugendheime und Treffpunkte, die plötzlich wie Pilze aus dem Boden schossen. Vor allem aber gehörten die Jugendlichen mit ihren Gitarren dazu. Und mit ihren Bands. Kellerräume, Garagen und Kinderzimmer wurden zu Proberäumen. An den Wänden hingen Poster von Jefferson Airplane, Ten Years After, Carlos Santana und Frank Zappa. Und in der Luft lag der süße schwere Duft von Patschuli und Haschisch, der nach draußen drang, wo ich in kurzen Lederhosen stand, die Taschen mit Knallplättchen, Abziehbildern und irgendwelchen Indianerfiguren vollgestopft, und nur dabei sein wollte. Ich wollte mich nur in irgendeine Ecke kauern und den Großen, die mein Bruder und seine Freunde waren, anhänglich, staunend und still zuhören. Und mich irgendwie, unbestimmt aber jungenhaft zugehörig zeigen. Vielleicht war ich da aber auch schon acht oder zehn Jahre alt, trug Jeans und hatte mich das erste Mal verliebt. Dem Wunsch nach Zugehörigkeit und dem Gefühl der Anhänglichkeit tat das keinen Abbruch.
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III. Haare
1968 waren meine Haare genauso kurz wie meine Lederhosen. Damit lag ich durchaus im Trend meines Jahrgangs. Um mich herum aber war die Welt weder folkloristisch noch brav. Um mich herum wuchsen die Haare. Und vor allem wuchs die Zahl derjenigen, die bald als „Hippies“, „Gammler“ oder einfach nur als „Langhaarige“ verschrien wurden. Und so glichen sich die Sprüche der Eltern in ihrer Empörung, verlogenen Scham und sozialen Befangenheit, wenn es hieß: „Du siehst ja aus wie ein Mädchen!“ Kaum etwas anderes konnte wohl die erwachende Männlichkeit der Heranwachsenden mehr und persönlicher verletzen und ihren Trotz und Widerstand herausfordern, als der Versuch, das sichtbarste Attribut ihrer Abgrenzung von bürgerlicher Wohlanständigkeit, ihre Haare, als mädchenhaft zu diffamieren. So wuchsen mit wachsender Kritik am und wachsender Distanz zum Elternhaus auch die Haare.
Und so bestimmten die Jugendlichen mit ihren Mähnen und Matten zunehmend das Kleinstadtbild. Und das Bild draußen und im Fernsehen und in der Welt. Wer „in“ sein, wer seine politische, seine soziale Haltung zum Ausdruck bringen wollte, der brauchte nicht viel mehr zu tun, als seine Haare wachsen zu lassen – dabei wusste er die Zeit auf seiner Seite. Das Musical „Hair“ traf mit der Deutschlandpremiere 1968 in München denn auch genau die Stimmung und den Nerv der Zeit. Die Mode einer Generation war auf der Bühne angekommen. Aber vielleicht war auch schon die Welt selbst zur Bühne geworden. Voller Träume, Widerstände und Haare.
Vielleicht, denke ich heute, war das inflationäre Wachstum der Haare, das bereits Mitte der 60er Jahre langsam, aber ungebremst, oder muss es heißen: ungeschnitten, einsetzte, auch ein rein biologischer Ausdruck des Generationswechsels, der sich damals so sichtbar vollzog. Junge Menschen haben nun einfach mal mehr auf dem Kopf, als ihre Väter. Bereits die Pilzkopffrisuren, die in den frühen 60ern wuchsen, schienen zu signalisieren: hier wächst was, während bei Euch nur alles grau und schütter und kahl wird! Auch wenn oben nichts mehr nachkam, wollten die Alten nicht ganz nachstehen. Also züchteten sie die Koteletten. Eine Haartracht, die eigentlich mehr eine Haarwucherung ist und auf der Skala der Geschmacklosigkeiten gleich hinter dem Minipli und der Vorne-lang-hinten-kurz-Frisur, der sogenannten Vokuhila (die uns in den 80er Jahren dann auch nicht erspart blieb) rangiert. Im Gegensatz zur aufkommenden Langhaarfrisur bei den Männern, die als Protest und „modischer“ Ausdruck politischen Widerstands verstanden werden wollte, entsprachen Koteletten durchaus noch der „political correctness“. (Ein Begriff, den es damals glücklicherweise noch nicht gab, eben weil diese Art heuchlerischer Haltung noch unbekannt war.) Wer sich also noch für jung und fortschrittlich hielt, ohne dabei mit den Zielen der 68er auch nur irgendwie einverstanden zu sein, verschob den Besuch beim Friseur öfter mal und zeigte sein Haupthaar stolz und gepflegt. Das war dann wohl schon in den 70ern, in denen plötzlich selbst ehemals eingefleischte CDU-Wähler mit Koteletten und Günter-Netzer-Frisur einen optimistischen Linksschwenk vollführten.
Die langen Haare der Männer waren nicht unbedingt ungepflegt. Verwegen aber waren sie in jedem Fall. Beim Haar der Frauen gab es neben einem ungehemmten Wachstum auch zahllose Versuche, ein historisches Schönheitsideal gnadenlos der Schere zu opfern. Die Motive, die für die weiblichen Kurzhaarfrisuren verantwortlich waren, lagen für mich damals ebenso im Dunkeln, wie die Gründe für ihr hemmungsloses Wachstum. Die Frage “Warum?“ existierte im Hinblick auf die Haare junger Frauen in meiner Welt überhaupt nicht. Was existierte, was präsent war und was mich anzog, war allein das, was ich sah: dunkle, glatte Kurzhaarfrisuren, die die Gesichter junger Mädchen einrahmten oder langes Haar, das über die Schultern fiel, den Rücken hinunter, lang und selbstbewusst. Da gab es welche, die sich mit Freunden auf den Bänken oder der Wiese vor der Kirche trafen, die Zigarette lässig zwischen den Fingern haltend, mit einem Blick, der zugleich verträumt, unschuldig und verwegen war. Ich hatte noch keine Worte, geschweige denn Begriffe für das, was ich sah und was mich faszinierte und anzog.
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IV. Der gute Rausch
1968, das war Politik, Revolte, Aufstand, das waren erhitzte Diskussionen, Widerstände, Trotz und Aufbegehren gegen Tradition und Vergessen, das waren Lebens- und Gesellschaftsentwürfe einer Generation, die ihren Eltern misstraute, euphorisch, kompromisslos und legitimiert durch das Bewusstsein, dass ihr, der Jugend, die Welt, dass ihr die Zukunft gehört.
Im Westen herrschte Wohlstand und die Wirtschaft gewann durch den tiefgreifenden Wandel, der die Gesellschaft erfasst hatte, neue Konsumenten. Plötzlich machte das Fernsehen, machten die Zeitungen und Illustrierten keine Reklame mehr, sondern Werbung. Und was für welche! Plötzlich wurde die Warenwelt ebenso bunt, wie die Hippies, wie die Ausgeflippten draußen auf der Straße. Die Wirtschaft reagierte schnell auf die sich wandelnde Mode, auf die neuen Idole, Träume und Lebensentwürfe.
Nach dem Saubermann- und Familienmuff, den spitzbrüstigen und bis zur sexuellen Unkenntlichkeit entstellten Hausfrauen, die mit biederen und hölzern gereimten Reklamesprüchen die Segnungen der Warenwelt der 50er Jahre kapriziös priesen, war nun endlich Schluss. Der kollektiv artigen Nüchternheit folgte der kollektive Rausch. Werbung wurde „Kult“. Und zahlreiche Slogans, die die Stimmen des politischen Umbruchs der 68er wie eine zweite Tonspur begleiteten, sind ins kollektive Bewusstsein eingegangen: „BMW - Freude am Fahren“, Fa- die wilde Frische von Limonen“, „Der Tag geht, Jonny Walker kommt“ und „Ich geh‘ meilenweit für eine Camel Filter“ sind nur einige der griffigen Slogans, die Ende der 60er die Kauflaune animierten und eine neue wirtschaftliche Zuversicht vermittelten.
Ich weiß nicht, wann ich zum ersten Mal den lasziven Werbespot von Afri-Cola gesehen habe: Nonnen, die sich zu psychedelischer Musik hinter einer Eisblumenscheibe aufreizend räkelten. Und dann der Satz, der mir in meinem unschuldigen achten oder neunten Lebensjahr so ungeheuer revolutionär erschien: „Super-sexy-mini-flower-pop-op-cola – alles ist in Afri-Cola“. Auf dem Schulhof plapperten wir ihn nach, wie wir so ziemlich alles nachplapperten, was die Werbekreativen damals auf den Markt warfen.
Schon das Wort „sexy“ war ein echtes „dirty-word“, unanständig und fast so schlimm wie das Wort „Sex“ (das vermutlich deshalb manche Zeitgenossen betont weich aussprachen, als ginge es um die Uhrzeit), weil es für Miniröcke und für Frauen, die unter ihren T-Shirts und Blusen keinen BH trugen zu stehen schien. Und allen voran starrten natürlich die Moralisten, also die, die sich dort kratzen, wo es andere Menschen juckt, mit besonders hypnotisierten Augen auf das, was ihre Fantasie erregte. (Ich vermute, dass die Gewinne der Miederwarenindustrie in diesen Jahren eher rückläufig waren.)
Für den „guten Rausch“, den die braune Brause versprach, war ich noch zu jung. Und Cola stand ohnehin nicht auf dem Ernährungsplan. Bevor nach langem Nörgeln die erste Flasche Tri-Top gekauft wurde, gab‘s Lebertran und Apfelsaft. Mehr und mehr füllten amerikanische Produkte die Supermarktregale: Corn Flakes, Marshmallows, und Batterien von Schokoriegeln. Wir müssen ziemlich ausgehungert gewesen sein, denn das Taschengeld landete nach der Schule und manchmal auch schon vorher, regelmäßig am Büdchen oder beim Bäcker, um Mars, Nuts oder Muscheln zum Auslecken, Puffreis, fliegende Untertassen und Esspapier zu kaufen. Es gab Sunkist-Pyramiden und Liebesperlen. Wir wurden gut vorbereitet auf den Konsumrausch der kommenden Jahre.
Ich war zu dieser Zeit ein großer Freund und unermüdlicher Konsument fröhlich-frischer Kaubonbons. Der Hersteller setzte in einem Fernsehspot denn auch auf Geschmack und nicht auf Ideologie. Den mit Mao-Plakaten durch die Straßen marschierenden Studenten antwortete er mit diszipliniert demonstrierenden Kindern, wohl meine Altersklasse, die „Maoam“ skandierten. Ich fand das lustig. Vor allem auch deshalb, weil ich diesmal verstand, um was es ging. - 1973 berichtete die Kölnische Rundschau über besorgte Eltern, die vermuteten, ihre Kinder würden im Kindergarten von Linksradikalen erzogen. Sie hatten den rhythmischen Sprechgesang der Kleinen, den die aus der Werbung kannten und jetzt nachäfften, für Lobeshymnen zu Ehren Mao Tse Tungs gehalten.
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V. Zur Sache Schätzchen!
„Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment!“ Dieser stereotype Schlachtruf der 68er war ein Machospruch. Aber es war natürlich nicht so, dass die Hormone vom politischen Widerstand gegen gesellschaftliche Konventionen gesteuert wurden.
Sex mit vielen Partnern hatte man nicht wegen, sondern trotz des Establishments. Außerdem: wenn Establishment als Schlagwort für die herrschenden Kräfte benutzt wurde, deren Tun immer nur auf die Festigung ihrer Macht gerichtet ist, dann bitteschön, waren doch wohl eher die Hormone das wahre Establishment.
Das verquaste Vokabular der 68er konnte nur unschwer darüber hinwegtäuschen, dass es schließlich doch nur um den ewigen Tanz der Hormone ging. Und der wurde ja nicht erst in den wilden 68ern erfunden. Es gab ihn schon vorher. Ende der 60er wurde der Tanz der Hormone erstmals öffentlich, er wurde zu einem gesellschaftlichen Ereignis. Neu war, neu wurde, dass man nun über Sex sprach. Nicht länger hinter vorgehaltener Hand, sondern eben öffentlich. Und neu war auch, dass die Frauen nicht mehr bis zur Ehe auf den Sex warten wollten. (Der sogenannte Kupplereiparagraph, der das Zusammenleben ohne Trauschein als „Unzucht“ unter Strafe stellte, wurde erst 1972 abgeschafft!) Und wäre nicht Anfang der 60er Jahre die Pille auf den Markt gekommen, die Geschichte wäre sicher anders verlaufen.
Eine Aufklärungswelle schwappte wie ein erregendes, wie ein duftendes Aphrodisiakum über das Land. Und eine ganz kleine Welle erreichte auch mich. Von einer erregenden Wirkung allerdings konnte noch keine Rede sein.
Ich glaube mein Vater brachte es von irgendeiner Reise oder einer Kegeltour mit und mit welchen Worten es ausgehändigt wurde, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls blätterte ich wochenlang gebannt in diesem quadratischen Buch, das einen babyblauen Umschlag hatte und in farbigen Scherenschnitten zuerst kopulierende Hühner und dann Hunde zeigte, anschließend – immer fein säuberlich aus farbigem Papier ausgeschnitten und wirklich sehr dekorativ – im Querschnitt das Eindringen eines Hundepenis‘ in die Vagina der Hündin, und schließlich den Kopf eines Mannes und einer Frau, die sich umständlich und mit geschlossenen Augen küssten. Es gipfelte darin, dass der Rest ihres Körpers unter einer Bettdecke verborgen war, die fast die gesamte Seite ausfüllte. Das also war das Abenteuer der Liebe? Das Buch war so lustlos wie sein Titel: „1 + 1 = 3“.
Während meine Fragen über die Mysterien von Fortpflanzung und Sexualität also unbeantwortet blieben, ließen sich dafür wenigstens die Erwachsenen erstmal richtig aufklären. Mit Filmen wie „Deine Frau - das unbekannte Wesen“ oder „Das Wunder der Liebe“ brachte Oswald Kolle frischen Wind in die deutschen Schlafzimmer. Auch das war Teil der sogenannten sexuellen Revolution. Wenn auch der biederen. Denn verglichen mit dem „Je t’aime…“, das Jane Birkin zum sanften Hammond-Orgel-Sound von Serge Gainsbourg erst hauchte und dann stöhnte, war alles andere tote Hose.
Die Sittenwächter waren hilflos. Je lauter sie schrien, je mehr sich Eltern, Lehrer und Politiker empörten und gegenzusteuern versuchten, umso selbstbewusster fielen Hüllen und Hemmungen. Es war der Überdruck, dem der Topfdeckel der Elterngeneration nicht länger standhielt. Von den zugeknöpften 50er Jahren hin zu den Zeiten des „summer of love“, der „Kommune 1“, der selbstbestimmten Sexualität und auch hin zu Dr. Sommer in der „Bravo“ vergingen keine 10 Jahre.
Heute, vierzig Jahre später, hat sich eine große Ernüchterung breitgemacht. Wir sind alle ein bisschen abgestumpft und abgeklärt. Aus der Euphorie einer ganzen Generation ist eine aufgeklärte Gesellschaft geworden - in der rund ein Viertel als Singles leben: sexuelle Nomaden und einsame, unbekannte Nachbarn.
Tabus und Verklemmtheit, sexuelle Zwänge und Doppelmoral gehören zum Glück weitgehend der Geschichte an. Die Orientierung aber ist schwieriger geworden in Zeiten großer errungener Freiheit.
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VI. Odyssee im Kino
Mein Schulweg führte am einzigen Kino der Stadt vorbei. In dem schmalen offenen Vestibül, das von mehreren hässlichen, eckigen Säulen zur Straße hin abgegrenzt war, blieb gerade einmal Platz für zwei oder drei Vitrinen, in denen Plakate und Standfotos das aktuelle und das kommende Programm ankündigten. Seine Blütezeit hatte das Kino damals bereits hinter sich, und nachdem es schließlich ganz geschlossen wurde, hingen nur noch öffentliche Bekanntmachungen oder Ankündigungen von lokalen Parteitreffen in den Schaukästen. Die Farbe blätterte vorschriftsmäßig von den alten Holzkästen ab und es war erstaunlich, dass die Scheiben noch nicht zu Bruch gegangen waren. Irgendwann wurde dann die Bestuhlung rausgerissen und ein Supermarkt zog ein. Die Vitrinen wurden ersetzt. In großen farbigen Kunststoffrahmen hingen jetzt die Sonderangebote.
Ich glaube die großen Kinofilme der späten 60er und frühen 70er Jahre wurden hier ohnehin nicht gezeigt. Es wäre schön, wenn meine Erinnerung trügt. Dann nämlich lief damals „If…“. Malcolm McDowell in der Rolle des unangepassten Schülers einer britischen Privatschule. Aufstand gegen bürgerliche Autoritäten, gegen Repressionen und sadistische Unterdrückung der Lehrerschaft. In der finalen Traumsequenz schießen die Schüler mit automatischen Waffen auf Lehrer, Eltern und Besucher. Zum Schluss wird dem Schulleiter in die Stirn geschossen.
Nach so viel Flower-Power, freier Liebe und endlosem politisch-gesellschaftlichem Diskurs, brach endlich die Gewalt aus. Der Film war Warnung und Drohung zugleich. Wenn freie, selbstbestimmte Lebensformen unterdrückt werden, dann ist eine gewalttätige Revolution zwingend. Das Kino wurde visionär. Es war zweifellos dasjenige Medium, das die Sehgewohnheiten und damit auch das Bewusstsein, den Blick auf die Wirklichkeit, am radikalsten und nachhaltigsten veränderte – trotz „Winnetou und Shatterhand im Tal der Toten“ und „Alfred, der Bezwinger der Wikinger“, die im selben Jahr anliefen.
Aber die Erinnerung an „If…“ geht in Wahrheit auf eine Fernsehausstrahlung irgendwann Anfang der 70er zurück, als in den Vitrinen des angezählten Kinos Plakate von gnadenlosen B-Movies der Kategorien Monster, Möpse und Muskelmänner hingen. Und auch wenn manche Lüge schöner ist, als manche peinliche Wahrheit: mein erstes Kinoerlebnis war „Die Wiege des Bösen“ - weit in den 70ern. So nachhaltig immerhin, dass es mir bis heute jegliche Lust auf Horrorfilme vergrault hat. Die guten, die wirklich guten Filme der späten 60er brannten sich erst Jahre später auf meine Netzhaut und von dort aus explodierten die Bilder dann unmittelbar im Kopf. Allen voran Stanley Kubricks „Odyssee im Weltraum – 2001“.
Ich saß mit einem Freund in einem kleinen ziemlich heruntergekommenen Programmkino. Kein Popcorn, keine Chips, keine Cola und vor allem: keine überfüllten Stuhlreihen. Ich glaube, außer uns saßen höchstens noch 10 oder zwölf versprengte Gestalten auf den harten Sperrsitzen. Als das Licht ausging blieb die Leinwand lange dunkel. Sphärische Klänge weckten die ersten Bilder im Kopf. Und dann begann eine Reise, die Entdeckung des Werkzeugs, die Metamorphose eines Steinzeitknochens in einen Erdsatelliten, ein Raumschiff, das zu den Klängen der „Schönen blauen Donau“ die Raumstation umtanzt. – Als wir aus dem Kino traten, regnete es in Strömen, es war dunkel. Ich konnte mich beim besten Willen nicht an irgendwelche Dialoge erinnern. Gab es überhaupt welche? Der kleine Platz vor dem Kino war menschenleer. Und wenn hinter dem glitzernden Regenschleier statt des kleinen Obelisken plötzlich ein schwarzer Monolith gestanden hätte, genau so, wie zu Beginn des Films, ich wäre nicht überrascht gewesen. Hatte ich doch gerade das Kino entdeckt.
Profaner aber nicht weniger nachhaltig war der „Yellow Submarine“-Streifen von den Beatles. Die skurrilen Bilder und Ideen von Heinz Edelmann fanden ihr Echo im Kunstunterricht. Und überhaupt: trotz der gewaltigen Macht der Bilder, gehörte die Musik nicht untrennbar dazu? Was wäre „Spiel mir das Lied vom Tod“ ohne die unverwechselbare Musik von Ennio Morricone? Was die Bond-Filme ohne John Barrys „Bildträger“, seine Musik nämlich? Und was ist mit „Easy Rider“? Einem Roadmovie, dessen Bilder bei den ersten Takten von „Born to be wild“ wieder lebendig werden, inklusive des heimischen Posters von Dennis Hopper und Peter Fonda auf ihren Harleys. – Ich glaube, Filmplakate sind heute ziemlich out.
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VII. Theorie & Tohuwabohu
Auf der Frankfurter Buchmesse im September 1968 ist das Buch „Klau mich“ von Rainer Langhans und Fritz Teufel bereits am ersten Tag vergriffen! Es wird überhaupt viel gelesen zu dieser Zeit - habe ich gelesen. Neben einer exzessiven Haartracht und betont unkonventioneller Kleidung gehört das Buch (meist ein Werk über Faschismustheorie oder Kapitalismuskritik) zum obligatorischen, um nicht zu sagen: zum modischen Accessoire derjenigen, die sich dem Geist der Revolution verpflichtet fühlen. Man liest Herbert Marcuse und Ernst Bloch, Karl Marx natürlich und Theodor W. Adorno. Man kann unterstellen, dass für viele dieser Autoren und ihre Bücher das gleiche galt wie für Rudi Dutschke: er war ein charismatischer Redner, den kaum jemand verstand.
Aber nicht nur von den Theoretikern, den Wissenschaftlern verlangte man politisches und gesellschaftliches Engagement. Auch die Literatur sollte dem Anspruch auf eine revolutionäre, mindestens aber kritische Sicht auf die Welt genügen. Was nicht irgendwie politisch war, was nicht in irgendeiner Art und Weise die gesellschaftlichen Zustände literarisch und künstlerisch reflektierte, entbehrte damit automatisch jeder ernsthaften Legitimation. Bereits 1965 erscheint das erste von Hans Magnus Enzensberger herausgegebene „Kursbuch“. Es wird bis weit in die 70er Jahre das literarische „Zentralorgan“ meist linker Intellektueller bleiben. Enzensberger verkündet lautstark den Tod der Literatur und beklagt damit doch nur das Fehlen der revolutionären Literatur.
Auch im „Kursbuch“ treibt die Theorie fröhliche Urständ. Und dass das von internationalen Autoren geschriebene Magazin zeitweise beachtlich hohe Auflagen erzielt, muss heute, in Zeiten in denen Information meist nur noch in kleinen leicht verdaulichen Häppchen verabreicht wird, angesichts der Titel mancher Beiträge, verwundern: „Undurchschaubarkeit und Evidenz in modernen Sozialsystemen“ oder „Rotfront Faraday. Über Elektronik und Klassenkampf. Ein Interpretationsmuster“ oder auch „Zur Kritik der progressiven Intelligenz in Deutschland“. Nein, leichte Kost und Eingängliches waren nicht gefragt. Solche Art der literarischen Produktion hätte sich dem Verdacht ausgesetzt unkritisch und konsumfreundlich zu sein und damit evident eine Affirmation des kapitalistischen Systems dokumentiert. Klar, das war uncool!
Bis zu den literarischen Selbstfindungsprozessen und dem exzessiven Seelenstriptease der 80er Jahre, dem was dann Postmoderne heißen sollte, war es noch ein weiter und nicht vorhersehbarer Weg. Und doch war es vor allem die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, den die Literatur der 68er anstieß und vorantrieb. Als Sohn des selbsternannten „Reichsarbeitsdichters“ Will Vesper, dessen Bücher in den 50er und 60er Jahren noch in zahllosen deutschen Bücherregalen standen, und als langjähriger Lebensgefährte von Gudrun Ensslin, verfasste Bernward Vesper mit seinem Roman-Fragment „Die Reise“ den Nachlass einer ganzen Generation. Einer Generation, die sich kollektiv mit der Schuld ihrer Väter im Nationalsozialismus auseinandersetzen wollte. Viele setzten sich mit dem System auseinander. Nur ganz wenige wählten den Weg über die eigene Biografie, so wie Bernward Vesper. Sein Leben und seine Geschichte stehen auf erschreckende Weise exemplarisch für eine ganze Generation: aufgewachsen im Schatten der Nachkriegszeit, klein gehalten im kleinbürgerlichen Mief, angesteckt vom politischen Aufbruch der Zeit, orientierungslos, halbstark und haltlos zugleich, verzweifelnd an der Übermacht des Vaters, Reisen, Fluchten, Drogen, das nebelhafte Gefühl einer großen abgestorbenen Leere, ein früher Tod. „Wir sind aufgewachsen im kalten Krieg, die Kinder von Murks und Coca-Cola.“ Auch das waren die 68er.
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VIII. In Boots nach Summerhill
Schwämme, Kreide und Schlüsselbünde als Wurfgeschosse gehörten in der Kreisklasse des damaligen Schulalltags zu den beliebten erzieherischen Waffen vieler Lehrer, genauso wie Ohrfeigen. Eine besonders sadistische, weil nicht spontane Spielart schulischer Gewalt waren die sogenannten „heißen Öhrchen“. Was wie ein schmackhaftes Kleingebäck klang, gehörte natürlich in Wahrheit zum reichen Repertoire eines antiquierten Pädagogikverständnisses. Um sich „heiße Öhrchen“ abzuholen, trat man vor das Lehrerpult und ließ sich die Ohrmuschel, eingeklemmt zwischen den kalten Fingern des pädagogischen Zuchtmeisters, in einer langsamen und unnachgiebigen Drehbewegung langziehen. Erniedrigender wurde die Prozedur nur noch dadurch, dass der Lehrer es nicht einmal für nötig hielt dabei aufzustehen und seine Macht also ganz lässig, selbstgerecht und gewissermaßen en passant auslebte. Ich hatte zwei- oder dreimal das Vergnügen. Dann war das Schuljahr zu Ende und wir bekamen einen anderen Lehrer. Statt heißer Ohren gab es in diesem Jahr nur Klassenbucheinträge.
Wir spürten zunehmend, dass die Tage der autoritären Bastionen gezählt waren. Und die pädagogischen Dinosaurier waren eben Dinosaurier, die eines Tages ihr Leben als ausgestopfte Exemplare nur noch in unserer Erinnerung fristen würden.
Zum Ensemble der pädagogischen Dinosaurier unserer Schule gehörte auch ein drakonischer, aber immerhin nicht bösartiger Lehrer, der uns im Erdkundeunterricht auf Zuruf von seinen Kriegserlebnissen aus dem „Memelland“ erzählte - und darüber den Unterrichtsstoff vergaß. Aber nicht, ohne am Ende der Stunde voller Verachtung festzustellen, dass wir allesamt verweichlichte und lebensuntaugliche Nichtsnutze seien, Hascher, Versager und Gammler.
Der als Herabwürdigung gemeinte Begriff „Gammler“ verfehlte sein Ziel völlig. Er amüsierte mich vielmehr, denn er war irgendwie harmlos und sogar ein bisschen schmeichelhaft. Für mich stand er für eine müde, gelassene und vielleicht auch antriebslose Promenadenmischung, die irgendwo in der Sonne liegt, und die man, würde sie nicht so furchtbar stinken, und wäre das Fell nicht voller Ungeziefer, am liebsten mit nach Hause genommen hätte, um sich vom Ausdruck ihrer tiefen Sorglosigkeit und Zufriedenheit ein bisschen anstecken zu lassen.
Natürlich mussten „Gammler“ und andere „Subjekte“, die sich dem Leistungsanspruch einer Generation, die den 2. Weltkrieg und die entbehrungsreichen Nachkriegsjahre erlebt hatten und vielfach ihrer Kindheit beraubt worden waren, entzogen und widersetzen, als ungeheure Provokation empfunden werden. Aber der Bruch zwischen den Generationen war kein vorübergehender, keiner, der durch das Ende unseres hormonellen Ausnahmezustands wieder zu kitten gewesen wäre. Nicht Ordnung, Pflichtbewusstsein und unkritisches Widerkäuen waren angesagt. Die Zukunft hielt anderes bereit.
Die gefühlte Mehrzahl der Studenten an deutschen Hochschulen am Ende der 60er Jahre hatte sich für Pädagogik, Soziologie oder Politikwissenschaften eingeschrieben. Erziehung und Gesellschaft bestimmten die öffentliche Diskussion. Die Erfahrungen, die viele junge Menschen in ihren Familie machten, wurden zum Modell einer autoritären Gesellschaft erklärt, dem neue progressive, an Freiheit und Selbstbestimmung orientierte Modelle entgegengesetzt wurden. War das der Beginn des langen Marsches durch die Institutionen?
Irgendwann kursierte das Traktat „Das Prinzip Summerhill“ unter uns Schülern. Wir begannen uns in der Schülermitverwaltung zu engagieren, schrieben und zeichneten für die Schülerzeitung und entdeckten die Provokation als wichtigen Motor unserer persönlichen Entwicklung. Und dabei kam uns jeder Widerstand gelegen: als willkommene und aufmunternde Bestätigung. Wo in den 30er Jahren noch die Gauführerschule untergebracht war und die Nazischergen in politischer Agitation unterrichtet wurden, diskutierten wir jetzt mit langen Haaren und in Boots und zerrissenen Jeans im Feuerschlösschen, dem den Oberstuflern vorbehaltenen Gebäude der Schule, Max Frisch und Heinrich Böll.
Irgendwann flogen auch keine Schwämme und Schlüsselbünde mehr durch die Klassenräume, und die ersten 68er kamen als Referendare an die Schule. Aber da hatten wir schon das Abitur in der Tasche - und sie noch ein ganzes Leben Schule vor sich.
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IX. The doors of perception
“The times they are a-changin’” – näselnd und krächzend gab Bob Dylan mit diesem Song einer ganzen Generation ihr Motto. Die Zeiten änderten sich und mit ihnen veränderte sich die Gesellschaft in nahezu allen Lebensbereichen. Politischer Aufbruch und kollektiver Bewusstseinswandel wurden zu Schlagwörtern. Orientierung versprach oft nur der Widerspruch gegen Konvention, Anstand und Tradition. Neben Gewalt war der Konsum von Drogen der andere massive Ausdruck von Widerstand und Protest.
„Wer halluzinogene Drogen raucht oder einwirft, um die Chemie im Hirn zu verändern, streift Enge im Denken ab, löst sich vom materialistischen Streben und dringt in spirituelle Bewusstseinsdimensionen vor.“ Das hätte auf den Beipackzetteln von LSD, Meskalin, Heroin und auch von Haschisch und Marihuana stehen können; all jenen und zahlreichen anderen Drogen, deren Konsum in den späten 60ern bis weit in die 80er Jahre hinein einen gesellschaftlichen Wandel ganz eigener Art kennzeichnete. Zwischen Ekstase und Lethargie, zwischen Widerstand und Flucht, und zwischen Ohnmacht und Selbsterfahrung durchlebten viele eine kurze Illusion. Denn Beipackzettel gab es nicht. Oder waren die Songtexte von Jim Morrison, Jimi Hendrix oder auch den Beatles die wahren Beipackzettel? „Break on through to the other side“ als unverhohlene Anspielung auf die bewusstseinserweiternde Wirkung des LSD, ebenso wie „Lucie in the Sky with Diamond“ dessen Abkürzung LSD lautet. Musik und Drogen gingen zu dieser Zeit eine untrennbare Verbindung ein. Und so überrascht es nicht, dass viele Eltern bereits die Musik, die ihre halbwüchsigen Kinder hörten, für gefährlich hielten. Vielleicht, denke ich heute, war manche Musik nur unter Drogen erlebbar, andere vielleicht nur unter Drogen erträglich.
Bereits Anfang der 70er Jahre wurde Haschisch in den Niederlanden legalisiert. Die deutschen Hascher schafften es immerhin einen „Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen“ zu gründen. Angesichts der Tatsache, dass sie latent breit waren, eine beachtliche Leistung.
Nach dem Motto „Versuch macht klug“ haben wir natürlich auch mit Drogen experimentiert. Eines Tages erzählte irgendjemand, dass Lianen „high“ machen würden. Also trafen wir uns im Wald, im Mucherwiesental oder im waldigen Dickicht oberhalb des Menzenbergs, schnitten uns zigarrengroße Lianenstücke von den Bäumen und rauchten was das Zeug hielt. In einem Zustand zwischen Andacht, Meditation und wachsender Übelkeit warteten wir auf die verheißene Wirkung. Nachdem wir unser vorverdautes Mittagessen auf dem Waldboden zurückgelassen hatten, versuchten wir es Wochen später mit Muskatnuss. Die Folgen dieses nächtlichen Experiments waren ausgesprochen nachhaltig. Die Pforten der Wahrnehmung waren von Übelkeit und Brechreiz verstellt. Und noch heute öffnet der Geruch von Muskatnuss bei mir Pforten ganz anderer Art. Alles in allem: eine bedingt heilsame Übung.
Was für viele nur eine Episode exzessiver Selbsterfahrung war, blieb für einige wenige ein Horrortrip, der zunehmend die Richtung ihres Lebens zu bestimmen begann. Dass Bad Honnef in den 70er Jahren ein massives Drogenproblem hatte, hielt uns höchstens davon ab, zu den harten Drogen zu greifen. Denn den harten Drogen waren bereits einige zum Opfer gefallen. Schließlich war zu dieser Zeit in der Stadt so ziemlich alles zu bekommen, was verboten war. Und um den Markt auch für die harten Drogen zu bereiten, war Heroin zeitweise nicht nur leichter zu beschaffen, sondern auch billiger als Haschisch oder Marihuana. Für einige gingen die 70er ohne besondere Erinnerungen vorbei, andere erlebten ihr Ende nicht. Und manche blieben zurück, während sich die Platte ihres Lebens drehte und die Nadel immer wieder an der gleichen Stelle sprang.
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X. Raubtier und Gefährte: time is fading
„Jemand hat mir mal gesagt, die Zeit würde uns wie ein Raubtier ein Leben lang verfolgen. Ich möchte viel lieber glauben, dass die Zeit unser Gefährte ist, der uns auf unserer Reise begleitet und uns daran erinnert, jeden Moment zu genießen, denn er wird nicht wiederkommen. Was wir hinterlassen ist nicht so wichtig wie die Art, wie wir gelebt haben. Denn letztlich sind wir alle nur sterblich.
Jean-Luc Picard
Ein Rückblick? Was ist das?
Bleib‘ stehen, halt kurz inne, wenn Du zurückblickst! Wenn Du den Kopf weit über die Schulter drehst, gerät die Gegenwart aus dem Blick. Und für einen kurzen Augenblick wird die Vergangenheit wieder zur Zukunft, einer schon gelebten allerdings, und ihr hängt das Senkblei alles Vergangenen an: die Wehmut. Da war ich, da bin ich gewesen. Von dort bin ich losgegangen. Die Zukunft - „Was hatten wir nicht alles für Pläne!“, „Alles war möglich!“, „Wir wollten die Welt verändern“ (und was der Klischees mehr sind) – die Zukunft ist vorbei. Für viele lebt sie tatsächlich nur noch in der Erinnerung, in Seufzern à la „Weißt Du noch?!“ oder „Ach ja, damals!“ mit einer langen versunkenen Stille nach dem Komma. Und die Stille ist das Paradies, von dem wir wissen, dass uns niemand daraus vertreiben kann.
Aber was ist geblieben? Außer der Erinnerung? Besser: was ist geworden, was hatte Bestand, was hat verändert? Wer prägt was? Prägen wir die Zeit oder prägt sie uns? Was ist nicht alles in die 68er hineingelegt, hineininterpretiert worden, welche Heldentaten, welche Epochegedanken? Das Bedürfnis uns zu verewigen, zumindest zu bleiben, treibt uns vielfach dazu die erlebte Zeit zu eigener Zeit, zu unserer Zeit zu machen, sie zu einem Besitz zu erklären, zu unserem Besitz zu erklären und uns damit, auf menschlich-unzulängliche Weise, zu verewigen. Die Wahrheit ist trivialer. Eine verklärte Vergangenheit ist das Futter der Gegenwart und der Motor selbstbehauptender Zuversicht. Was nicht zur Zuversicht, was nicht zur Selbstvergewisserung taugt, das landet im Archiv des Vergessens. Nur in der Erinnerung sonnen wir uns im Bewusstsein: das haben wir gelebt, das nimmt uns niemand mehr weg!
Heute, wo die Kinder der 68er ihre Eltern mit einer Mischung aus Unverständnis und Fassungslosigkeit betrachten, heute, wo die Kinder der 68er zwischen den K.O.-Schlägen des Kapitalismus (Arbeitslosigkeit), den sozialen Verwerfungen einer freien Gesellschaft (Scheidung und Patchwork) und den Verlockungen des ebenso schnellen wie kurzen medialen Erfolges (DSDS) hin- und hergerissen werden, entwickelt sich ein neuer Pragmatismus, der vor allem eines ist: unpolitisch. Als Vorbild, als Orientierung taugen die 68er schon lange nicht mehr. Wohl aber als Kultobjekt.
Die 68er erleben ein Revival auf T-Shirts, als Coverversionen in Mode, Design und Medien, als nett verpacktes Häppchen im Feuilleton oder in Kulturmagazinen. Hip, wild und vor allem: vergangen.
Nein, mir fehlen die 68er nicht. Mir fehlen weder die Hippies noch die Kommunarden, nicht die Apo und auch nicht die ideologielastigen Diskussionen von begnadeten Rednern, die doch niemand verstand. Fehlt mir vielleicht die Single, die damals noch keine Lebensform, sondern einfach nur eine kleine Schallplatte war, fehlen mir die Schlachten im Bonner Bundestag zwischen Strauß und Schmidt und Wehner und Brand und Dregger? Fehlt mir das rituelle Samstagabendbad mit Schaum und Quietscheente und der anschließende Fernsehshow „Einer wird gewinnen“ mit Hans Joachim Kulenkampff? Nein, all das fehlt mir nicht. Wie auch? Das alles gehört doch unverbrüchlich zum Archiv der Erinnerung.
Trotzdem, Hellmut „Lederstrumpf“ Langes Sendung „Kennen Sie Kino?“, die könnte doch noch mal wiederholt werden.
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Neunzehnhundertachtundsechzig!
I. Flimmern und Rauschen
Ich war sechs Jahre alt, als am 4. April 1968 die tödlichen Schüsse auf Martin Luther King in Memphis fielen. Ich sah die Bilder im Fernsehen. Genauso, wie ich die Bilder vom Kampf der Amerikaner gegen die Vietcong in Saigon sah, die Bilder des französischen Generalstreiks und die Besetzung der Sorbonne in Paris, die Bilder von der Wahl Richard Nixons zum 37. Präsidenten der Vereinigten Staaten. Ich sah die Bilder ohne sie zu verstehen. Stattdessen verarbeitete ich meine Eindrücke, wie wohl die meisten meiner Generation, in Kriegs- und Gangsterspielen. Auch wir töteten uns gegenseitig täglich mehrmals und brachial in dem kleinen Wäldchen hinter unserem Haus bis wir zum Abendessen gerufen wurden.
Dann sah ich die faszinierenden Bilder der ersten bemannten Mondumkreisung durch Apollo 8, Aufnahmen vom Kontrollzentrum in Cape Canaveral, und ich baute mir aus alten Waschpulverkartons eine eigene Rakete, robust genug, mich sechs Wochen lang in ferne Umlaufbahnen zu träumen. Im Fernsehen sah ich auch die Bilder von den Olympischen Spielen in Mexiko und Bob Beamons Weltrekord im Weitsprung: achtmeterneunzig! Allabendlich flimmerte während des Essens bei Milch und Schnittchen der Fernseher und nichts zog mich magischer an, als diese Bilder. Abend für Abend. Das war 1968. In schwarz-weiß. Wäre ich zehn oder auch nur fünf Jahre älter gewesen, ich hätte eine Vorstellung davon entwickeln können, was da um mich herum passierte, hätte es zumindest vage einordnen können. Vielleicht aber auch nicht.
Heute weiß ich, dass selbst viele Erwachsene damals mit den Ereignissen überfordert waren, sie nicht einordnen konnten, nicht begriffen, was das, was da draußen passierte, bedeutete. Und was in ihre halbwüchsigen Kinder gefahren war, die mit immer längeren Haaren am Tisch saßen, „Hippie-Musik“ hörten und Ho-Chi-Minh-Parolen rufend auf die Straße gingen und demonstrierten, das begriffen sie noch weniger.
Meine Erinnerungen an das Jahr 1968 sind untrennbar mit dem Fernsehen verbunden. Und eigentlich beginnen sie bereits ein Jahr zuvor. Das Staatsbegräbnis Konrad Adenauers wurde im Fernsehen übertragen. Unser Gerät war in einem Kommodenähnlichen Schränkchen hinter einer abschließbaren Falttüre verborgen und gesichert. An diesem besonderen Tag wurde es bereits am Vormittag geöffnet. Die Eurovisionsmelodie erklang. Und weil ich sie an diesem Tag das erste Mal bewusst hörte, blieb sie für mich immer verbunden mit dem Gefühl von Festlichkeit, Trauer, Abschied und Tod. Ich glaube, schon damals habe ich bei den Fanfarenklängen weinen müssen. Ich hockte da und verfolgte fasziniert die stille und zugleich pompöse Prozession der Trauergäste. Die Überführung des Sarges von Köln nach Rhöndorf begleitet von einer NATO-Flottille machte einen tiefen Eindruck auf mich. Dass wir uns mitten im kalten Krieg befanden, dass wusste ich damals natürlich noch nicht.
Im gleichen Jahr, also 1967, fand auch der Besuch des Persischen Königs Reza Pahlewi und seiner Frau Soraya in Berlin statt. Ein Ereignis von nationalem Interesse. Und ein Fest für die Boulevardzeitungen und Hochglanzmagazine. Ein Fest, das man sich auch nicht durch die Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg verderben ließ, während die Staatsgäste in der Deutschen Oper die „Zauberflöte“ hörten. Eigentlich begann 1968 schon damals.
Während ich im Fernsehen die ersten Folgen von „Lassie“ sah und Roy Black von den Lesern der „Bravo“ zum beliebtesten Sänger des Jahres gewählt wurde, herrschten in einigen Ländern Europas, wie Spanien, Portugal und Griechenland, noch Diktatoren. Ich kann mich noch gut erinnern, dass wir auf die Postkarten, die wir vom Urlaub in Spanien aus nach Deutschland schickten, Briefmarken mit dem Porträt von General Franco, „el Caudillo“, klebten.
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II. Die Rillen der Revolution
Ich bin mit Vinyl aufgewachsen. Schallplatten hatten bereits früh Kultstatus. Schallplatten waren nicht einfach nur funktionale Tonträger, Schallplatten mussten – und ich sage das nicht ohne eine leichte Wehmut über den Verlust des Unwiederbringlichen – mit Sorgfalt und Vorsicht behandelt werden. Ihre Oberfläche wurde mit Anti-Statik-Tüchern von Staub befreit und manche Puristen spielten ihre kostbaren Scheiben nur nass ab. Schallplatten hatten eine erste Seite und eine Rückseite, die bei den Singles Flipside hieß. Es glich oft einem Ritual, die Saphirnadel auf die äußere Rille oder auf den breiteren Zwischenraum zwischen zwei Stücken zu setzen, ohne zu zittern und also die Scheibe nicht durch Kratzer zu beschädigen. Mein erster Plattenspieler war der Mister Hit von Telefunken, ein kompaktes Gerät, in dessen durchsichtigem, abnehmbarem Kunststoffdeckel der Lautsprecher integriert war. Aber das war erst Mitte der 70er.
Meine erste bewusste Begegnung mit der Musik der Zeit, die gleichzeitig, wenn man so will, meine musikalische Erweckung war – zumindest markiert sie den Beginn meiner wachsenden musikalischen Neugierde - war der Nummer-Eins-Hit des Jahres 69, „Ob-La-Di, Ob-La-Da“. Nicht eben eine Hymne der Revolution und heute, nach rund 40 Jahren, eher in die Kategorie „alberne Unbekümmertheit“ abzulegen. (Als Howard Carpendale den Song 1996 coverte, war mir das ein unabweisbarer Beleg dafür, dass ich damals ganz eindeutig unter Geschmacksverirrungen gelitten hatte.) Ich trällerte den Song wochenlang auf dem Schulweg und auch auf dem Nachhauseweg, albern und unbekümmert. Die Flipside der Single kannte ich damals noch nicht. Dabei war „While my Guitar gently weeps“, mit dem fulminanten Gitarrensolo von Eric Clapton, vielmehr und viel stärker Ausdruck der 68er. Später erst, etwa Mitte der 70er, als ich das Weiße Album für mich entdeckte, das nummerierte Doppelalbum mit Poster und vier Hochglanzporträts, die sofort an die Wand gepinnt wurden, „Revolution“ und „Back in the U.S.S.R.“ hörte und vor allem den wohl besten Song „Happyness is a warm gun“, wuchs mein Respekt (oder war es nur eine pubertäre Faszination?) vor einer Bewegung, einer Zeit, einem Lebensgefühl, deren Anfänge da bereits fast 10 Jahre zurücklagen.
Im selben Jahr, als halb Deutschland also albern und unbekümmert „Ob-La-Di, Ob-La-Da“ trällerte, fand im US Bundesstaat New York, auf einer Viehweide bei Bethel, das wohl bedeutendste Musikfestival der Zeit statt, das zugleich der Höhepunkt der amerikanischen Hippiebewegung war. Geschätzte 400.000 Teilnehmer erlebten Woodstock als ein Musik- und Drogen-Happening. Hier spielten natürlich weder die Beatles noch die von ihren Fans zum proletarischen Gegenblock erklärten Rolling Stones. Woodstock, das war die amerikanische Hippiekultur, der Jimmy Hendrix mit seiner Version der amerikanischen Nationalhymne, dem „Star Spangled Banner“, am Ende des Festivals einen zugleich wehmütigen und anklagenden musikalischen Gegenentwurf zum offiziellen Amerika lieferte, einem Amerika, das seine Söhne in den Vietnamkrieg schickte.
Die „Musik aus Studio B“, die Chris Howland wöchentlich präsentierte, war harmlos, brav und passte fabelhaft in die neue bunte Warenwelt der 60er Jahre. Vermutlich erinnert sich auch deshalb niemand mehr an sie. Anders war es mit dem „Beat Club“. Schon allein deshalb, weil er von Uschi Nerke moderiert wurde und Gogo-Girls in kurzen Röckchen vor der Bühne herum zappelten und weil dort „richtige“ Musik gespielt wurde, live. Aber ich glaube, ich habe das nur am Rande mitbekommen. Wenn überhaupt.
„Stell den Krach ab!“ war der regelmäßige Kommentar vieler Eltern, die zwar „I want to hold your hand“ in einer Hazy-Osterwald-Bigband-Version auf ihren Feten mit Salzbrezeln und aufgespießten Käsewürfeln hörten, Jimmy Hendrix aber für „Negermusik“ hielten und dem wachsenden Drogenkonsum ihrer Kinder mit Entsetzen, Hilflosigkeit und dem Repertoire derer reagierten, für die Härte und Autorität die Mittel zum Erfolg waren, auch im Privaten.
Es war ein Soundteppich, der über der Zeit lag, besser gesagt, der durch sie hindurch geknüpft wurde und ihr dadurch – rückblickend – eine Form, eine Gestalt gab. Dazu gehörten die zahlreichen Clubs, Jugendheime und Treffpunkte, die plötzlich wie Pilze aus dem Boden schossen. Vor allem aber gehörten die Jugendlichen mit ihren Gitarren dazu. Und mit ihren Bands. Kellerräume, Garagen und Kinderzimmer wurden zu Proberäumen. An den Wänden hingen Poster von Jefferson Airplane, Ten Years After, Carlos Santana und Frank Zappa. Und in der Luft lag der süße schwere Duft von Patschuli und Haschisch, der nach draußen drang, wo ich in kurzen Lederhosen stand, die Taschen mit Knallplättchen, Abziehbildern und irgendwelchen Indianerfiguren vollgestopft, und nur dabei sein wollte. Ich wollte mich nur in irgendeine Ecke kauern und den Großen, die mein Bruder und seine Freunde waren, anhänglich, staunend und still zuhören. Und mich irgendwie, unbestimmt aber jungenhaft zugehörig zeigen. Vielleicht war ich da aber auch schon acht oder zehn Jahre alt, trug Jeans und hatte mich das erste Mal verliebt. Dem Wunsch nach Zugehörigkeit und dem Gefühl der Anhänglichkeit tat das keinen Abbruch.
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III. Haare
1968 waren meine Haare genauso kurz wie meine Lederhosen. Damit lag ich durchaus im Trend meines Jahrgangs. Um mich herum aber war die Welt weder folkloristisch noch brav. Um mich herum wuchsen die Haare. Und vor allem wuchs die Zahl derjenigen, die bald als „Hippies“, „Gammler“ oder einfach nur als „Langhaarige“ verschrien wurden. Und so glichen sich die Sprüche der Eltern in ihrer Empörung, verlogenen Scham und sozialen Befangenheit, wenn es hieß: „Du siehst ja aus wie ein Mädchen!“ Kaum etwas anderes konnte wohl die erwachende Männlichkeit der Heranwachsenden mehr und persönlicher verletzen und ihren Trotz und Widerstand herausfordern, als der Versuch, das sichtbarste Attribut ihrer Abgrenzung von bürgerlicher Wohlanständigkeit, ihre Haare, als mädchenhaft zu diffamieren. So wuchsen mit wachsender Kritik am und wachsender Distanz zum Elternhaus auch die Haare.
Und so bestimmten die Jugendlichen mit ihren Mähnen und Matten zunehmend das Kleinstadtbild. Und das Bild draußen und im Fernsehen und in der Welt. Wer „in“ sein, wer seine politische, seine soziale Haltung zum Ausdruck bringen wollte, der brauchte nicht viel mehr zu tun, als seine Haare wachsen zu lassen – dabei wusste er die Zeit auf seiner Seite. Das Musical „Hair“ traf mit der Deutschlandpremiere 1968 in München denn auch genau die Stimmung und den Nerv der Zeit. Die Mode einer Generation war auf der Bühne angekommen. Aber vielleicht war auch schon die Welt selbst zur Bühne geworden. Voller Träume, Widerstände und Haare.
Vielleicht, denke ich heute, war das inflationäre Wachstum der Haare, das bereits Mitte der 60er Jahre langsam, aber ungebremst, oder muss es heißen: ungeschnitten, einsetzte, auch ein rein biologischer Ausdruck des Generationswechsels, der sich damals so sichtbar vollzog. Junge Menschen haben nun einfach mal mehr auf dem Kopf, als ihre Väter. Bereits die Pilzkopffrisuren, die in den frühen 60ern wuchsen, schienen zu signalisieren: hier wächst was, während bei Euch nur alles grau und schütter und kahl wird! Auch wenn oben nichts mehr nachkam, wollten die Alten nicht ganz nachstehen. Also züchteten sie die Koteletten. Eine Haartracht, die eigentlich mehr eine Haarwucherung ist und auf der Skala der Geschmacklosigkeiten gleich hinter dem Minipli und der Vorne-lang-hinten-kurz-Frisur, der sogenannten Vokuhila (die uns in den 80er Jahren dann auch nicht erspart blieb) rangiert. Im Gegensatz zur aufkommenden Langhaarfrisur bei den Männern, die als Protest und „modischer“ Ausdruck politischen Widerstands verstanden werden wollte, entsprachen Koteletten durchaus noch der „political correctness“. (Ein Begriff, den es damals glücklicherweise noch nicht gab, eben weil diese Art heuchlerischer Haltung noch unbekannt war.) Wer sich also noch für jung und fortschrittlich hielt, ohne dabei mit den Zielen der 68er auch nur irgendwie einverstanden zu sein, verschob den Besuch beim Friseur öfter mal und zeigte sein Haupthaar stolz und gepflegt. Das war dann wohl schon in den 70ern, in denen plötzlich selbst ehemals eingefleischte CDU-Wähler mit Koteletten und Günter-Netzer-Frisur einen optimistischen Linksschwenk vollführten.
Die langen Haare der Männer waren nicht unbedingt ungepflegt. Verwegen aber waren sie in jedem Fall. Beim Haar der Frauen gab es neben einem ungehemmten Wachstum auch zahllose Versuche, ein historisches Schönheitsideal gnadenlos der Schere zu opfern. Die Motive, die für die weiblichen Kurzhaarfrisuren verantwortlich waren, lagen für mich damals ebenso im Dunkeln, wie die Gründe für ihr hemmungsloses Wachstum. Die Frage “Warum?“ existierte im Hinblick auf die Haare junger Frauen in meiner Welt überhaupt nicht. Was existierte, was präsent war und was mich anzog, war allein das, was ich sah: dunkle, glatte Kurzhaarfrisuren, die die Gesichter junger Mädchen einrahmten oder langes Haar, das über die Schultern fiel, den Rücken hinunter, lang und selbstbewusst. Da gab es welche, die sich mit Freunden auf den Bänken oder der Wiese vor der Kirche trafen, die Zigarette lässig zwischen den Fingern haltend, mit einem Blick, der zugleich verträumt, unschuldig und verwegen war. Ich hatte noch keine Worte, geschweige denn Begriffe für das, was ich sah und was mich faszinierte und anzog.
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IV. Der gute Rausch
1968, das war Politik, Revolte, Aufstand, das waren erhitzte Diskussionen, Widerstände, Trotz und Aufbegehren gegen Tradition und Vergessen, das waren Lebens- und Gesellschaftsentwürfe einer Generation, die ihren Eltern misstraute, euphorisch, kompromisslos und legitimiert durch das Bewusstsein, dass ihr, der Jugend, die Welt, dass ihr die Zukunft gehört.
Im Westen herrschte Wohlstand und die Wirtschaft gewann durch den tiefgreifenden Wandel, der die Gesellschaft erfasst hatte, neue Konsumenten. Plötzlich machte das Fernsehen, machten die Zeitungen und Illustrierten keine Reklame mehr, sondern Werbung. Und was für welche! Plötzlich wurde die Warenwelt ebenso bunt, wie die Hippies, wie die Ausgeflippten draußen auf der Straße. Die Wirtschaft reagierte schnell auf die sich wandelnde Mode, auf die neuen Idole, Träume und Lebensentwürfe.
Nach dem Saubermann- und Familienmuff, den spitzbrüstigen und bis zur sexuellen Unkenntlichkeit entstellten Hausfrauen, die mit biederen und hölzern gereimten Reklamesprüchen die Segnungen der Warenwelt der 50er Jahre kapriziös priesen, war nun endlich Schluss. Der kollektiv artigen Nüchternheit folgte der kollektive Rausch. Werbung wurde „Kult“. Und zahlreiche Slogans, die die Stimmen des politischen Umbruchs der 68er wie eine zweite Tonspur begleiteten, sind ins kollektive Bewusstsein eingegangen: „BMW - Freude am Fahren“, Fa- die wilde Frische von Limonen“, „Der Tag geht, Jonny Walker kommt“ und „Ich geh‘ meilenweit für eine Camel Filter“ sind nur einige der griffigen Slogans, die Ende der 60er die Kauflaune animierten und eine neue wirtschaftliche Zuversicht vermittelten.
Ich weiß nicht, wann ich zum ersten Mal den lasziven Werbespot von Afri-Cola gesehen habe: Nonnen, die sich zu psychedelischer Musik hinter einer Eisblumenscheibe aufreizend räkelten. Und dann der Satz, der mir in meinem unschuldigen achten oder neunten Lebensjahr so ungeheuer revolutionär erschien: „Super-sexy-mini-flower-pop-op-cola – alles ist in Afri-Cola“. Auf dem Schulhof plapperten wir ihn nach, wie wir so ziemlich alles nachplapperten, was die Werbekreativen damals auf den Markt warfen.
Schon das Wort „sexy“ war ein echtes „dirty-word“, unanständig und fast so schlimm wie das Wort „Sex“ (das vermutlich deshalb manche Zeitgenossen betont weich aussprachen, als ginge es um die Uhrzeit), weil es für Miniröcke und für Frauen, die unter ihren T-Shirts und Blusen keinen BH trugen zu stehen schien. Und allen voran starrten natürlich die Moralisten, also die, die sich dort kratzen, wo es andere Menschen juckt, mit besonders hypnotisierten Augen auf das, was ihre Fantasie erregte. (Ich vermute, dass die Gewinne der Miederwarenindustrie in diesen Jahren eher rückläufig waren.)
Für den „guten Rausch“, den die braune Brause versprach, war ich noch zu jung. Und Cola stand ohnehin nicht auf dem Ernährungsplan. Bevor nach langem Nörgeln die erste Flasche Tri-Top gekauft wurde, gab‘s Lebertran und Apfelsaft. Mehr und mehr füllten amerikanische Produkte die Supermarktregale: Corn Flakes, Marshmallows, und Batterien von Schokoriegeln. Wir müssen ziemlich ausgehungert gewesen sein, denn das Taschengeld landete nach der Schule und manchmal auch schon vorher, regelmäßig am Büdchen oder beim Bäcker, um Mars, Nuts oder Muscheln zum Auslecken, Puffreis, fliegende Untertassen und Esspapier zu kaufen. Es gab Sunkist-Pyramiden und Liebesperlen. Wir wurden gut vorbereitet auf den Konsumrausch der kommenden Jahre.
Ich war zu dieser Zeit ein großer Freund und unermüdlicher Konsument fröhlich-frischer Kaubonbons. Der Hersteller setzte in einem Fernsehspot denn auch auf Geschmack und nicht auf Ideologie. Den mit Mao-Plakaten durch die Straßen marschierenden Studenten antwortete er mit diszipliniert demonstrierenden Kindern, wohl meine Altersklasse, die „Maoam“ skandierten. Ich fand das lustig. Vor allem auch deshalb, weil ich diesmal verstand, um was es ging. - 1973 berichtete die Kölnische Rundschau über besorgte Eltern, die vermuteten, ihre Kinder würden im Kindergarten von Linksradikalen erzogen. Sie hatten den rhythmischen Sprechgesang der Kleinen, den die aus der Werbung kannten und jetzt nachäfften, für Lobeshymnen zu Ehren Mao Tse Tungs gehalten.
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V. Zur Sache Schätzchen!
„Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment!“ Dieser stereotype Schlachtruf der 68er war ein Machospruch. Aber es war natürlich nicht so, dass die Hormone vom politischen Widerstand gegen gesellschaftliche Konventionen gesteuert wurden.
Sex mit vielen Partnern hatte man nicht wegen, sondern trotz des Establishments. Außerdem: wenn Establishment als Schlagwort für die herrschenden Kräfte benutzt wurde, deren Tun immer nur auf die Festigung ihrer Macht gerichtet ist, dann bitteschön, waren doch wohl eher die Hormone das wahre Establishment.
Das verquaste Vokabular der 68er konnte nur unschwer darüber hinwegtäuschen, dass es schließlich doch nur um den ewigen Tanz der Hormone ging. Und der wurde ja nicht erst in den wilden 68ern erfunden. Es gab ihn schon vorher. Ende der 60er wurde der Tanz der Hormone erstmals öffentlich, er wurde zu einem gesellschaftlichen Ereignis. Neu war, neu wurde, dass man nun über Sex sprach. Nicht länger hinter vorgehaltener Hand, sondern eben öffentlich. Und neu war auch, dass die Frauen nicht mehr bis zur Ehe auf den Sex warten wollten. (Der sogenannte Kupplereiparagraph, der das Zusammenleben ohne Trauschein als „Unzucht“ unter Strafe stellte, wurde erst 1972 abgeschafft!) Und wäre nicht Anfang der 60er Jahre die Pille auf den Markt gekommen, die Geschichte wäre sicher anders verlaufen.
Eine Aufklärungswelle schwappte wie ein erregendes, wie ein duftendes Aphrodisiakum über das Land. Und eine ganz kleine Welle erreichte auch mich. Von einer erregenden Wirkung allerdings konnte noch keine Rede sein.
Ich glaube mein Vater brachte es von irgendeiner Reise oder einer Kegeltour mit und mit welchen Worten es ausgehändigt wurde, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls blätterte ich wochenlang gebannt in diesem quadratischen Buch, das einen babyblauen Umschlag hatte und in farbigen Scherenschnitten zuerst kopulierende Hühner und dann Hunde zeigte, anschließend – immer fein säuberlich aus farbigem Papier ausgeschnitten und wirklich sehr dekorativ – im Querschnitt das Eindringen eines Hundepenis‘ in die Vagina der Hündin, und schließlich den Kopf eines Mannes und einer Frau, die sich umständlich und mit geschlossenen Augen küssten. Es gipfelte darin, dass der Rest ihres Körpers unter einer Bettdecke verborgen war, die fast die gesamte Seite ausfüllte. Das also war das Abenteuer der Liebe? Das Buch war so lustlos wie sein Titel: „1 + 1 = 3“.
Während meine Fragen über die Mysterien von Fortpflanzung und Sexualität also unbeantwortet blieben, ließen sich dafür wenigstens die Erwachsenen erstmal richtig aufklären. Mit Filmen wie „Deine Frau - das unbekannte Wesen“ oder „Das Wunder der Liebe“ brachte Oswald Kolle frischen Wind in die deutschen Schlafzimmer. Auch das war Teil der sogenannten sexuellen Revolution. Wenn auch der biederen. Denn verglichen mit dem „Je t’aime…“, das Jane Birkin zum sanften Hammond-Orgel-Sound von Serge Gainsbourg erst hauchte und dann stöhnte, war alles andere tote Hose.
Die Sittenwächter waren hilflos. Je lauter sie schrien, je mehr sich Eltern, Lehrer und Politiker empörten und gegenzusteuern versuchten, umso selbstbewusster fielen Hüllen und Hemmungen. Es war der Überdruck, dem der Topfdeckel der Elterngeneration nicht länger standhielt. Von den zugeknöpften 50er Jahren hin zu den Zeiten des „summer of love“, der „Kommune 1“, der selbstbestimmten Sexualität und auch hin zu Dr. Sommer in der „Bravo“ vergingen keine 10 Jahre.
Heute, vierzig Jahre später, hat sich eine große Ernüchterung breitgemacht. Wir sind alle ein bisschen abgestumpft und abgeklärt. Aus der Euphorie einer ganzen Generation ist eine aufgeklärte Gesellschaft geworden - in der rund ein Viertel als Singles leben: sexuelle Nomaden und einsame, unbekannte Nachbarn.
Tabus und Verklemmtheit, sexuelle Zwänge und Doppelmoral gehören zum Glück weitgehend der Geschichte an. Die Orientierung aber ist schwieriger geworden in Zeiten großer errungener Freiheit.
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VI. Odyssee im Kino
Mein Schulweg führte am einzigen Kino der Stadt vorbei. In dem schmalen offenen Vestibül, das von mehreren hässlichen, eckigen Säulen zur Straße hin abgegrenzt war, blieb gerade einmal Platz für zwei oder drei Vitrinen, in denen Plakate und Standfotos das aktuelle und das kommende Programm ankündigten. Seine Blütezeit hatte das Kino damals bereits hinter sich, und nachdem es schließlich ganz geschlossen wurde, hingen nur noch öffentliche Bekanntmachungen oder Ankündigungen von lokalen Parteitreffen in den Schaukästen. Die Farbe blätterte vorschriftsmäßig von den alten Holzkästen ab und es war erstaunlich, dass die Scheiben noch nicht zu Bruch gegangen waren. Irgendwann wurde dann die Bestuhlung rausgerissen und ein Supermarkt zog ein. Die Vitrinen wurden ersetzt. In großen farbigen Kunststoffrahmen hingen jetzt die Sonderangebote.
Ich glaube die großen Kinofilme der späten 60er und frühen 70er Jahre wurden hier ohnehin nicht gezeigt. Es wäre schön, wenn meine Erinnerung trügt. Dann nämlich lief damals „If…“. Malcolm McDowell in der Rolle des unangepassten Schülers einer britischen Privatschule. Aufstand gegen bürgerliche Autoritäten, gegen Repressionen und sadistische Unterdrückung der Lehrerschaft. In der finalen Traumsequenz schießen die Schüler mit automatischen Waffen auf Lehrer, Eltern und Besucher. Zum Schluss wird dem Schulleiter in die Stirn geschossen.
Nach so viel Flower-Power, freier Liebe und endlosem politisch-gesellschaftlichem Diskurs, brach endlich die Gewalt aus. Der Film war Warnung und Drohung zugleich. Wenn freie, selbstbestimmte Lebensformen unterdrückt werden, dann ist eine gewalttätige Revolution zwingend. Das Kino wurde visionär. Es war zweifellos dasjenige Medium, das die Sehgewohnheiten und damit auch das Bewusstsein, den Blick auf die Wirklichkeit, am radikalsten und nachhaltigsten veränderte – trotz „Winnetou und Shatterhand im Tal der Toten“ und „Alfred, der Bezwinger der Wikinger“, die im selben Jahr anliefen.
Aber die Erinnerung an „If…“ geht in Wahrheit auf eine Fernsehausstrahlung irgendwann Anfang der 70er zurück, als in den Vitrinen des angezählten Kinos Plakate von gnadenlosen B-Movies der Kategorien Monster, Möpse und Muskelmänner hingen. Und auch wenn manche Lüge schöner ist, als manche peinliche Wahrheit: mein erstes Kinoerlebnis war „Die Wiege des Bösen“ - weit in den 70ern. So nachhaltig immerhin, dass es mir bis heute jegliche Lust auf Horrorfilme vergrault hat. Die guten, die wirklich guten Filme der späten 60er brannten sich erst Jahre später auf meine Netzhaut und von dort aus explodierten die Bilder dann unmittelbar im Kopf. Allen voran Stanley Kubricks „Odyssee im Weltraum – 2001“.
Ich saß mit einem Freund in einem kleinen ziemlich heruntergekommenen Programmkino. Kein Popcorn, keine Chips, keine Cola und vor allem: keine überfüllten Stuhlreihen. Ich glaube, außer uns saßen höchstens noch 10 oder zwölf versprengte Gestalten auf den harten Sperrsitzen. Als das Licht ausging blieb die Leinwand lange dunkel. Sphärische Klänge weckten die ersten Bilder im Kopf. Und dann begann eine Reise, die Entdeckung des Werkzeugs, die Metamorphose eines Steinzeitknochens in einen Erdsatelliten, ein Raumschiff, das zu den Klängen der „Schönen blauen Donau“ die Raumstation umtanzt. – Als wir aus dem Kino traten, regnete es in Strömen, es war dunkel. Ich konnte mich beim besten Willen nicht an irgendwelche Dialoge erinnern. Gab es überhaupt welche? Der kleine Platz vor dem Kino war menschenleer. Und wenn hinter dem glitzernden Regenschleier statt des kleinen Obelisken plötzlich ein schwarzer Monolith gestanden hätte, genau so, wie zu Beginn des Films, ich wäre nicht überrascht gewesen. Hatte ich doch gerade das Kino entdeckt.
Profaner aber nicht weniger nachhaltig war der „Yellow Submarine“-Streifen von den Beatles. Die skurrilen Bilder und Ideen von Heinz Edelmann fanden ihr Echo im Kunstunterricht. Und überhaupt: trotz der gewaltigen Macht der Bilder, gehörte die Musik nicht untrennbar dazu? Was wäre „Spiel mir das Lied vom Tod“ ohne die unverwechselbare Musik von Ennio Morricone? Was die Bond-Filme ohne John Barrys „Bildträger“, seine Musik nämlich? Und was ist mit „Easy Rider“? Einem Roadmovie, dessen Bilder bei den ersten Takten von „Born to be wild“ wieder lebendig werden, inklusive des heimischen Posters von Dennis Hopper und Peter Fonda auf ihren Harleys. – Ich glaube, Filmplakate sind heute ziemlich out.
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VII. Theorie & Tohuwabohu
Auf der Frankfurter Buchmesse im September 1968 ist das Buch „Klau mich“ von Rainer Langhans und Fritz Teufel bereits am ersten Tag vergriffen! Es wird überhaupt viel gelesen zu dieser Zeit - habe ich gelesen. Neben einer exzessiven Haartracht und betont unkonventioneller Kleidung gehört das Buch (meist ein Werk über Faschismustheorie oder Kapitalismuskritik) zum obligatorischen, um nicht zu sagen: zum modischen Accessoire derjenigen, die sich dem Geist der Revolution verpflichtet fühlen. Man liest Herbert Marcuse und Ernst Bloch, Karl Marx natürlich und Theodor W. Adorno. Man kann unterstellen, dass für viele dieser Autoren und ihre Bücher das gleiche galt wie für Rudi Dutschke: er war ein charismatischer Redner, den kaum jemand verstand.
Aber nicht nur von den Theoretikern, den Wissenschaftlern verlangte man politisches und gesellschaftliches Engagement. Auch die Literatur sollte dem Anspruch auf eine revolutionäre, mindestens aber kritische Sicht auf die Welt genügen. Was nicht irgendwie politisch war, was nicht in irgendeiner Art und Weise die gesellschaftlichen Zustände literarisch und künstlerisch reflektierte, entbehrte damit automatisch jeder ernsthaften Legitimation. Bereits 1965 erscheint das erste von Hans Magnus Enzensberger herausgegebene „Kursbuch“. Es wird bis weit in die 70er Jahre das literarische „Zentralorgan“ meist linker Intellektueller bleiben. Enzensberger verkündet lautstark den Tod der Literatur und beklagt damit doch nur das Fehlen der revolutionären Literatur.
Auch im „Kursbuch“ treibt die Theorie fröhliche Urständ. Und dass das von internationalen Autoren geschriebene Magazin zeitweise beachtlich hohe Auflagen erzielt, muss heute, in Zeiten in denen Information meist nur noch in kleinen leicht verdaulichen Häppchen verabreicht wird, angesichts der Titel mancher Beiträge, verwundern: „Undurchschaubarkeit und Evidenz in modernen Sozialsystemen“ oder „Rotfront Faraday. Über Elektronik und Klassenkampf. Ein Interpretationsmuster“ oder auch „Zur Kritik der progressiven Intelligenz in Deutschland“. Nein, leichte Kost und Eingängliches waren nicht gefragt. Solche Art der literarischen Produktion hätte sich dem Verdacht ausgesetzt unkritisch und konsumfreundlich zu sein und damit evident eine Affirmation des kapitalistischen Systems dokumentiert. Klar, das war uncool!
Bis zu den literarischen Selbstfindungsprozessen und dem exzessiven Seelenstriptease der 80er Jahre, dem was dann Postmoderne heißen sollte, war es noch ein weiter und nicht vorhersehbarer Weg. Und doch war es vor allem die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, den die Literatur der 68er anstieß und vorantrieb. Als Sohn des selbsternannten „Reichsarbeitsdichters“ Will Vesper, dessen Bücher in den 50er und 60er Jahren noch in zahllosen deutschen Bücherregalen standen, und als langjähriger Lebensgefährte von Gudrun Ensslin, verfasste Bernward Vesper mit seinem Roman-Fragment „Die Reise“ den Nachlass einer ganzen Generation. Einer Generation, die sich kollektiv mit der Schuld ihrer Väter im Nationalsozialismus auseinandersetzen wollte. Viele setzten sich mit dem System auseinander. Nur ganz wenige wählten den Weg über die eigene Biografie, so wie Bernward Vesper. Sein Leben und seine Geschichte stehen auf erschreckende Weise exemplarisch für eine ganze Generation: aufgewachsen im Schatten der Nachkriegszeit, klein gehalten im kleinbürgerlichen Mief, angesteckt vom politischen Aufbruch der Zeit, orientierungslos, halbstark und haltlos zugleich, verzweifelnd an der Übermacht des Vaters, Reisen, Fluchten, Drogen, das nebelhafte Gefühl einer großen abgestorbenen Leere, ein früher Tod. „Wir sind aufgewachsen im kalten Krieg, die Kinder von Murks und Coca-Cola.“ Auch das waren die 68er.
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VIII. In Boots nach Summerhill
Schwämme, Kreide und Schlüsselbünde als Wurfgeschosse gehörten in der Kreisklasse des damaligen Schulalltags zu den beliebten erzieherischen Waffen vieler Lehrer, genauso wie Ohrfeigen. Eine besonders sadistische, weil nicht spontane Spielart schulischer Gewalt waren die sogenannten „heißen Öhrchen“. Was wie ein schmackhaftes Kleingebäck klang, gehörte natürlich in Wahrheit zum reichen Repertoire eines antiquierten Pädagogikverständnisses. Um sich „heiße Öhrchen“ abzuholen, trat man vor das Lehrerpult und ließ sich die Ohrmuschel, eingeklemmt zwischen den kalten Fingern des pädagogischen Zuchtmeisters, in einer langsamen und unnachgiebigen Drehbewegung langziehen. Erniedrigender wurde die Prozedur nur noch dadurch, dass der Lehrer es nicht einmal für nötig hielt dabei aufzustehen und seine Macht also ganz lässig, selbstgerecht und gewissermaßen en passant auslebte. Ich hatte zwei- oder dreimal das Vergnügen. Dann war das Schuljahr zu Ende und wir bekamen einen anderen Lehrer. Statt heißer Ohren gab es in diesem Jahr nur Klassenbucheinträge.
Wir spürten zunehmend, dass die Tage der autoritären Bastionen gezählt waren. Und die pädagogischen Dinosaurier waren eben Dinosaurier, die eines Tages ihr Leben als ausgestopfte Exemplare nur noch in unserer Erinnerung fristen würden.
Zum Ensemble der pädagogischen Dinosaurier unserer Schule gehörte auch ein drakonischer, aber immerhin nicht bösartiger Lehrer, der uns im Erdkundeunterricht auf Zuruf von seinen Kriegserlebnissen aus dem „Memelland“ erzählte - und darüber den Unterrichtsstoff vergaß. Aber nicht, ohne am Ende der Stunde voller Verachtung festzustellen, dass wir allesamt verweichlichte und lebensuntaugliche Nichtsnutze seien, Hascher, Versager und Gammler.
Der als Herabwürdigung gemeinte Begriff „Gammler“ verfehlte sein Ziel völlig. Er amüsierte mich vielmehr, denn er war irgendwie harmlos und sogar ein bisschen schmeichelhaft. Für mich stand er für eine müde, gelassene und vielleicht auch antriebslose Promenadenmischung, die irgendwo in der Sonne liegt, und die man, würde sie nicht so furchtbar stinken, und wäre das Fell nicht voller Ungeziefer, am liebsten mit nach Hause genommen hätte, um sich vom Ausdruck ihrer tiefen Sorglosigkeit und Zufriedenheit ein bisschen anstecken zu lassen.
Natürlich mussten „Gammler“ und andere „Subjekte“, die sich dem Leistungsanspruch einer Generation, die den 2. Weltkrieg und die entbehrungsreichen Nachkriegsjahre erlebt hatten und vielfach ihrer Kindheit beraubt worden waren, entzogen und widersetzen, als ungeheure Provokation empfunden werden. Aber der Bruch zwischen den Generationen war kein vorübergehender, keiner, der durch das Ende unseres hormonellen Ausnahmezustands wieder zu kitten gewesen wäre. Nicht Ordnung, Pflichtbewusstsein und unkritisches Widerkäuen waren angesagt. Die Zukunft hielt anderes bereit.
Die gefühlte Mehrzahl der Studenten an deutschen Hochschulen am Ende der 60er Jahre hatte sich für Pädagogik, Soziologie oder Politikwissenschaften eingeschrieben. Erziehung und Gesellschaft bestimmten die öffentliche Diskussion. Die Erfahrungen, die viele junge Menschen in ihren Familie machten, wurden zum Modell einer autoritären Gesellschaft erklärt, dem neue progressive, an Freiheit und Selbstbestimmung orientierte Modelle entgegengesetzt wurden. War das der Beginn des langen Marsches durch die Institutionen?
Irgendwann kursierte das Traktat „Das Prinzip Summerhill“ unter uns Schülern. Wir begannen uns in der Schülermitverwaltung zu engagieren, schrieben und zeichneten für die Schülerzeitung und entdeckten die Provokation als wichtigen Motor unserer persönlichen Entwicklung. Und dabei kam uns jeder Widerstand gelegen: als willkommene und aufmunternde Bestätigung. Wo in den 30er Jahren noch die Gauführerschule untergebracht war und die Nazischergen in politischer Agitation unterrichtet wurden, diskutierten wir jetzt mit langen Haaren und in Boots und zerrissenen Jeans im Feuerschlösschen, dem den Oberstuflern vorbehaltenen Gebäude der Schule, Max Frisch und Heinrich Böll.
Irgendwann flogen auch keine Schwämme und Schlüsselbünde mehr durch die Klassenräume, und die ersten 68er kamen als Referendare an die Schule. Aber da hatten wir schon das Abitur in der Tasche - und sie noch ein ganzes Leben Schule vor sich.
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IX. The doors of perception
“The times they are a-changin’” – näselnd und krächzend gab Bob Dylan mit diesem Song einer ganzen Generation ihr Motto. Die Zeiten änderten sich und mit ihnen veränderte sich die Gesellschaft in nahezu allen Lebensbereichen. Politischer Aufbruch und kollektiver Bewusstseinswandel wurden zu Schlagwörtern. Orientierung versprach oft nur der Widerspruch gegen Konvention, Anstand und Tradition. Neben Gewalt war der Konsum von Drogen der andere massive Ausdruck von Widerstand und Protest.
„Wer halluzinogene Drogen raucht oder einwirft, um die Chemie im Hirn zu verändern, streift Enge im Denken ab, löst sich vom materialistischen Streben und dringt in spirituelle Bewusstseinsdimensionen vor.“ Das hätte auf den Beipackzetteln von LSD, Meskalin, Heroin und auch von Haschisch und Marihuana stehen können; all jenen und zahlreichen anderen Drogen, deren Konsum in den späten 60ern bis weit in die 80er Jahre hinein einen gesellschaftlichen Wandel ganz eigener Art kennzeichnete. Zwischen Ekstase und Lethargie, zwischen Widerstand und Flucht, und zwischen Ohnmacht und Selbsterfahrung durchlebten viele eine kurze Illusion. Denn Beipackzettel gab es nicht. Oder waren die Songtexte von Jim Morrison, Jimi Hendrix oder auch den Beatles die wahren Beipackzettel? „Break on through to the other side“ als unverhohlene Anspielung auf die bewusstseinserweiternde Wirkung des LSD, ebenso wie „Lucie in the Sky with Diamond“ dessen Abkürzung LSD lautet. Musik und Drogen gingen zu dieser Zeit eine untrennbare Verbindung ein. Und so überrascht es nicht, dass viele Eltern bereits die Musik, die ihre halbwüchsigen Kinder hörten, für gefährlich hielten. Vielleicht, denke ich heute, war manche Musik nur unter Drogen erlebbar, andere vielleicht nur unter Drogen erträglich.
Bereits Anfang der 70er Jahre wurde Haschisch in den Niederlanden legalisiert. Die deutschen Hascher schafften es immerhin einen „Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen“ zu gründen. Angesichts der Tatsache, dass sie latent breit waren, eine beachtliche Leistung.
Nach dem Motto „Versuch macht klug“ haben wir natürlich auch mit Drogen experimentiert. Eines Tages erzählte irgendjemand, dass Lianen „high“ machen würden. Also trafen wir uns im Wald, im Mucherwiesental oder im waldigen Dickicht oberhalb des Menzenbergs, schnitten uns zigarrengroße Lianenstücke von den Bäumen und rauchten was das Zeug hielt. In einem Zustand zwischen Andacht, Meditation und wachsender Übelkeit warteten wir auf die verheißene Wirkung. Nachdem wir unser vorverdautes Mittagessen auf dem Waldboden zurückgelassen hatten, versuchten wir es Wochen später mit Muskatnuss. Die Folgen dieses nächtlichen Experiments waren ausgesprochen nachhaltig. Die Pforten der Wahrnehmung waren von Übelkeit und Brechreiz verstellt. Und noch heute öffnet der Geruch von Muskatnuss bei mir Pforten ganz anderer Art. Alles in allem: eine bedingt heilsame Übung.
Was für viele nur eine Episode exzessiver Selbsterfahrung war, blieb für einige wenige ein Horrortrip, der zunehmend die Richtung ihres Lebens zu bestimmen begann. Dass Bad Honnef in den 70er Jahren ein massives Drogenproblem hatte, hielt uns höchstens davon ab, zu den harten Drogen zu greifen. Denn den harten Drogen waren bereits einige zum Opfer gefallen. Schließlich war zu dieser Zeit in der Stadt so ziemlich alles zu bekommen, was verboten war. Und um den Markt auch für die harten Drogen zu bereiten, war Heroin zeitweise nicht nur leichter zu beschaffen, sondern auch billiger als Haschisch oder Marihuana. Für einige gingen die 70er ohne besondere Erinnerungen vorbei, andere erlebten ihr Ende nicht. Und manche blieben zurück, während sich die Platte ihres Lebens drehte und die Nadel immer wieder an der gleichen Stelle sprang.
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X. Raubtier und Gefährte: time is fading
„Jemand hat mir mal gesagt, die Zeit würde uns wie ein Raubtier ein Leben lang verfolgen. Ich möchte viel lieber glauben, dass die Zeit unser Gefährte ist, der uns auf unserer Reise begleitet und uns daran erinnert, jeden Moment zu genießen, denn er wird nicht wiederkommen. Was wir hinterlassen ist nicht so wichtig wie die Art, wie wir gelebt haben. Denn letztlich sind wir alle nur sterblich.
Jean-Luc Picard
Ein Rückblick? Was ist das?
Bleib‘ stehen, halt kurz inne, wenn Du zurückblickst! Wenn Du den Kopf weit über die Schulter drehst, gerät die Gegenwart aus dem Blick. Und für einen kurzen Augenblick wird die Vergangenheit wieder zur Zukunft, einer schon gelebten allerdings, und ihr hängt das Senkblei alles Vergangenen an: die Wehmut. Da war ich, da bin ich gewesen. Von dort bin ich losgegangen. Die Zukunft - „Was hatten wir nicht alles für Pläne!“, „Alles war möglich!“, „Wir wollten die Welt verändern“ (und was der Klischees mehr sind) – die Zukunft ist vorbei. Für viele lebt sie tatsächlich nur noch in der Erinnerung, in Seufzern à la „Weißt Du noch?!“ oder „Ach ja, damals!“ mit einer langen versunkenen Stille nach dem Komma. Und die Stille ist das Paradies, von dem wir wissen, dass uns niemand daraus vertreiben kann.
Aber was ist geblieben? Außer der Erinnerung? Besser: was ist geworden, was hatte Bestand, was hat verändert? Wer prägt was? Prägen wir die Zeit oder prägt sie uns? Was ist nicht alles in die 68er hineingelegt, hineininterpretiert worden, welche Heldentaten, welche Epochegedanken? Das Bedürfnis uns zu verewigen, zumindest zu bleiben, treibt uns vielfach dazu die erlebte Zeit zu eigener Zeit, zu unserer Zeit zu machen, sie zu einem Besitz zu erklären, zu unserem Besitz zu erklären und uns damit, auf menschlich-unzulängliche Weise, zu verewigen. Die Wahrheit ist trivialer. Eine verklärte Vergangenheit ist das Futter der Gegenwart und der Motor selbstbehauptender Zuversicht. Was nicht zur Zuversicht, was nicht zur Selbstvergewisserung taugt, das landet im Archiv des Vergessens. Nur in der Erinnerung sonnen wir uns im Bewusstsein: das haben wir gelebt, das nimmt uns niemand mehr weg!
Heute, wo die Kinder der 68er ihre Eltern mit einer Mischung aus Unverständnis und Fassungslosigkeit betrachten, heute, wo die Kinder der 68er zwischen den K.O.-Schlägen des Kapitalismus (Arbeitslosigkeit), den sozialen Verwerfungen einer freien Gesellschaft (Scheidung und Patchwork) und den Verlockungen des ebenso schnellen wie kurzen medialen Erfolges (DSDS) hin- und hergerissen werden, entwickelt sich ein neuer Pragmatismus, der vor allem eines ist: unpolitisch. Als Vorbild, als Orientierung taugen die 68er schon lange nicht mehr. Wohl aber als Kultobjekt.
Die 68er erleben ein Revival auf T-Shirts, als Coverversionen in Mode, Design und Medien, als nett verpacktes Häppchen im Feuilleton oder in Kulturmagazinen. Hip, wild und vor allem: vergangen.
Nein, mir fehlen die 68er nicht. Mir fehlen weder die Hippies noch die Kommunarden, nicht die Apo und auch nicht die ideologielastigen Diskussionen von begnadeten Rednern, die doch niemand verstand. Fehlt mir vielleicht die Single, die damals noch keine Lebensform, sondern einfach nur eine kleine Schallplatte war, fehlen mir die Schlachten im Bonner Bundestag zwischen Strauß und Schmidt und Wehner und Brand und Dregger? Fehlt mir das rituelle Samstagabendbad mit Schaum und Quietscheente und der anschließende Fernsehshow „Einer wird gewinnen“ mit Hans Joachim Kulenkampff? Nein, all das fehlt mir nicht. Wie auch? Das alles gehört doch unverbrüchlich zum Archiv der Erinnerung.
Trotzdem, Hellmut „Lederstrumpf“ Langes Sendung „Kennen Sie Kino?“, die könnte doch noch mal wiederholt werden.
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colonna - 2. Apr, 18:43
Weiter so!
ich gratuliere Dir zu den ersten beiden Kapiteln und hoffe inständig, dass noch viele folgen werden. (Am besten Du machst gleich einen 68er Blog auf!)
Es war eine einmalige Zeit und ich bin froh, sie miterlebt zu haben. Trotz Vietnam, Attentaten in den USA, Angst vor dem Atomkrieg, Chile, Prag und Biaffra gab es so viel Hoffnung und den Glauben etwas Positives bewirken zu können, was der großen Gruppenbewegung unserer Jugend ja auch gelungen ist: Weniger Machtmißbrauch auf allen familiären und gesellschaftlichen Ebenen.
Und es gab Highlights ohne Ende: Rock und Pop wie seitdem nie wieder, Beckenbauer, Muhammad Ali und Fosbury. Badewanne und Ente. Auf der Straße spielen, jeden Winter Schnee und Schlittern, Mondlandung und InterRail, Gemeinschaftsgefühl (damals als Singles noch Schallplatten waren und keine isolierten Individuen) und Politikdebatten, Tanzschule und Minirock ....
Ich danke Dir!
Versprochen: Bald mehr an dieser Stelle!
Es wird in diesem Jahr so viel über die 68er geschrieben, die heute fast alle kurz vor der Rente stehen, dass die etwas jüngeren dabei ganz aus dem Blick geraten. Jene, die aus Kinder- oder pubertären Jugendaugen die Veränderungen dieser Jahre miterlebt haben. Ich freue mich darum über jede Rückmeldung und auch über eigene Erfahrungs- und Erlebnisberichte. Zu viel versinkt zu schnell im Strudel des Vergessens. Dabei ist der Blick der Erinnerung im besten Fall doch immer auch ein Akt der Selbstvergewisserung.
Bald mehr an dieser Stelle.
p.s.
Die bisher erschienenen Folgen mit Bildern, sowie alle anderen Kolumnen unter http://www.freiehonnefer.de/category/weltweit/lesezeichen